Thennberg oder Versuch einer Heimkehr
ohnehin erst fünfzehn. Aber es wäre trotzdem nicht schicklich gewesen. Ich dachte zwar nicht ausdrücklich an die Klatschgeschichte, die das Leben meiner Frau vergiftet hat, aber ich wusste immerhin, was Klatsch bedeutet. Und der junge Mann, mit dem Liselotte hätte allein bleiben müssen, war ja kein x-beliebiger, sondern ausgerechnet der junge Kranz. Die Leute wunderten sich ohnehin darüber, dass ich, gerade ich, ihn aufgenommen habe. Gerade ihn. Sie sagten es mir nicht direkt ins Gesicht, aber sie munkelten. Niemand konnte beweisen, dass der junge Kranz damals mit meiner Frau, die ja noch die Frau des Veit Wallach gewesen ist, wirklich etwas gehabt hat. Aber auch das Gegenteil ist nie bewiesen worden. Ich konnte jedenfalls nicht dulden, dass die Leute auch noch über Liselotte zu tratschen begannen. So ließ ich sie also gehen. Ich war etwas später in der Apotheke, um für den Kranken ein Medikament zu besorgen, ging dann zu ihm in das Schlafzimmer hinauf und blieb eine Weile an seinem Bett. Ich habe ihn nach seinen Plänen gefragt. Er sagte, er hätte keine. Er behauptete wie schon früher, dass seine ganze Familie umgekommen sei, und ich versuchte ihn zu trösten, denn seine Informationen waren in der Tat unverlässlich, irgendwelche Erzählungen waren ja noch lange keine Beweise. Und es handelte sich nur um Erzählungen. Auch im Kazet gab es ja Klatsch. Außerdem wollte ich ihm Mut machen. Er war sehr geschwächt, konnte oder wollte nicht reden, schlief auch immer wieder ein. Ich wartete dann auf Liselotte und überlegte, ob sie sich wohl warm genug angezogen hatte. Später ging ich weg. Es begann zu dämmern. Ich ging ihr entgegen. Da ich sie nicht fand, kehrte ich um. Ich dachte, sie ist vielleicht bereits zu Hause.
Ich wüsste heute nicht mehr, welches Kleid sie an jenem Tag getragen hat, und wenn ich es trotzdem weiß, so nur deshalb, weil ich mich an jede kleinste Einzelheit der nächsten Stunde erinnern kann, an das Pochen an der Tür – die Klingel funktionierte nicht, es hat ja damals keine Elektrizität gegeben –, an die Leute, die ins Haus kamen, an die beiden Schuhsohlen, denn zuerst habe ich die beiden Schuhsohlen gesehen und erst nachher die Decke, in die man sie gelegt hat, und erst zuallerletzt das Gesicht. An das schwache Licht der Petroleumlampe waren wir gewöhnt. Trotzdem dauerte es eine kleine Ewigkeit, bis ich das Gesicht erkannt habe. Auch die Leute, die Liselotte heimgebracht haben, erkannte ich nicht gleich. Man legte Liselotte auf das Bett. Sie hatte den dunkelgrauen Mantel an, blaue Stutzen, und um den Kopf immer noch festgebunden die drei Tücher. Das oberste Tuch war braun, es hatte noch ihrer Mutter gehört. Das Kleid war aus einem festen Stoff, rot, ich glaube aus Flanell. Ich besitze es noch. Ich habe es reinigen lassen und in den Schrank gehängt. Man sieht die runden Löcher am Rücken ganz genau, aber das Blut ist freilich weg. Herr Ambros, der Mesner, war mit dabei, er schrie oder vielmehr er stöhnte fortwährend: Die Russen, die Russen. Ambros war es, der die Tote gefunden hat. Die anderen schwiegen.
Der dritte Grund dafür, dass ich nicht in der Lage bin, den Ablauf der Dinge mit der notwendigen Genauigkeit zu schildern, hat weder mit meinen Gefühlen noch mit meinem Gedächtnis etwas zu tun. Ungefähr um zwei Uhr nachmittags ist Liselotte weggegangen, ungefähr um sieben Uhr abends wurde sie gefunden. Sie lag unweit der Straße. Der Mesner behauptet, sie lag auf der rechten Seite, mit dem Gesicht auf dem Boden. Das mag stimmen. Am Gesicht klebte etwas Erde, wahrscheinlich habe ich es deshalb nicht gleich erkannt. Was in diesen fünf Stunden, zwischen zwei und sieben Uhr, geschehen ist, weiß kein Mensch. Die Täter wurden nie gefunden. In der Gegend streunten damals Männer herum, Nazis auf der Flucht, Kazetler auf dem Heimweg, Fremdarbeiter, Deserteure, Soldaten in Uniform, russisches Militär, Landstreicher und so weiter. Bei uns im Dorf gab es keine Russen. Aber ein paar Tage vorher ritten vier junge russische Soldaten zweimal durch das Dorf, einmal auf den Eichelberg zu und einmal zurück. Frau Mohaupt, die Frau des Apothekers, sagte damals: Die vier Reiter der Apokalypse. So schön hat sie sich ausgedrückt. Kein Wunder, ihr Mann ist ja dann Gemeinderat geworden. Vielleicht habenes diese vier Russen getan, oder einer von ihnen. Die Schüsse wurden jedenfalls aus einer russischen Armeepistole abgefeuert.
D
alag er nun wieder, Richard Kranz, und wusste nicht
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