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Thennberg oder Versuch einer Heimkehr

Thennberg oder Versuch einer Heimkehr

Titel: Thennberg oder Versuch einer Heimkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gyoergy Sebestyen
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Luxus schlechthin. Lilo wusste nichts von alldem, nichts vom Gehorsam im Kazet und von den Sitzgarnituren im Hotel Sacher, sie band sich ihre Tücher fest und sagte bereits auf der Straße: Das lass nur meine Sache sein, den Heinz wickel’ ich um den kleinen Finger, und außerdem, was soll das plötzlich, dieses Sie? Seit wann sagen wir Sie zueinander? Komm, sagte Richard Kranz, forget it, und sie sah ihn an, als wollte sie ihn auf die spitze Nase spießen und dann zwischen straffen dünnen Lippen, zwischen den feinen scharfen Zahnreihen verspeisen, und während sie ihn so ansah, war ihm wieder zumute, als hätte gerade ein anderer aus seinem Mund gesprochen, dieses forget it der Englischstunden zu Hause, go to the window, und er war an das Fenster gegangen, where is the window?, und er hatte hingezeigt, Italia peninsula est, das warin der Lateinstunde gewesen, in der allerersten Lateinstunde in der ersten Klasse des Gymnasiums, und wohin war das alles verschwunden, und wieso war es wieder da und warum gerade jetzt? Lilo sagte: Abends gibt es Erdäpfel. Er fragte: Wieso? Sie sagte: Nämlich wenn es Erdäpfel gibt, dann fragt der Heinz überhaupt nichts, dann stopft er sich den Magen voll und gibt Ruh’. Er nickte und freute sich über ihre Stimme und wusste auch, warum er englisch reden wollte und lateinisch und über die Eltern erzählen, über Erich Mohaupt, über die gemeinsamen Spaziergänge um den Stephansdom herum (sie waren im leichten Schneefall zehnmal oder vierzigmal um die Kirche gegangen und hatten dabei über Gedichte gesprochen und über die Zukunft der Menschheit und über Friedrich Nietzsche, Stefan George, Ernst Jünger, und über das bittere Los der Armen, über die Ungerechtigkeit dieser Welt und über vieles mehr, und während sie einander ihre Gedanken mitgeteilt hatten, waren sie nebenbei damit beschäftigt gewesen, bei jedem zehnten Schritt auszuspucken, und zwar so, dass die Spucke den Schuh des anderen genau traf), und warum er über den Geruch des Gehorchens erzählen wollte und über den Gestank des Sterbens und über den Duft eines guten Restaurants; er wollte ihr einfach alles erzählen. Und redete nichts. Vielleicht hatte er Fieber. Dann waren sie unter den Platanen angekommen und gingen durch das offene Tor in das Schloss, und nun wollte er mit dem Erzählen wirklich beginnen. Er sprach und hatte wieder das Gefühl, aus seinem Mund spreche eine fremde Stimme.
    HabenSie vorher den Schaukelstuhl gesehen, fragte er, in diesem Schaukelstuhl saß immer mein Onkel, er hieß Eduard Kranz und war bei der Versicherung. Schluss, aus. Lilo hatte nicht einmal den Blick gehoben, warum auch, jeder konnte einen Onkel haben, der in einem Schaukelstuhl gesessen war, und jeder Onkel konnte bei der Versicherung gewesen sein. Mein Onkel ist Gärtner in Schrunz, sagte Lilo, der Bruder meines Vaters, aber ich habe ihn nie gesehen. Im Salon stand eine Kiste voll zerknülltem Zeitungspapier, die chinesische Vase von Tante Paula war nicht da, und also gab es über Tante Paula nichts zu sagen, und nichts über ihre Gesangschule in Zürich, und nichts über den italienischen Sänger, der auf der Brosche unterhalb ihres faltigen Halses zu sehen gewesen war in der Rolle des Rigoletto mit weit aufgerissenem Mund. Im ehemaligen Herrenzimmer war die Holztäfelung kaum beschädigt. Das Zimmer vorher, sagte Richard Kranz, ist der Salon gewesen, der Schaukelstuhl stand ursprünglich im Salon. Und dann, im Schlafzimmer, sagte er: Da stand das Bett meiner Mutter. Lilo fragte: Und wo hat dein Vater geschlafen? Man erzählte, sagte Richard Kranz, es war ein Bett aus der Zeit des Louis Quatorze. Und dein Vater? fragte Lilo. Der war nicht oft hier, sagte Richard Kranz, und wenn er hier war, schlief er im Herrenzimmer. Und er hätte doch alles erzählen müssen, die laute Stimme des Onkel Edi unter dem Fenster, das Schicksal der Tante Paula, das Leben des Jakob Rombach und das Ringen von Großmutter Kranz um christliche Seligkeit, das häufige Flüchten des Vaters irgendwohin, in einen Badeort, die hasti gen Abreisen nach Abbazia, das Blühen der wahnsinnig gewordenen Sträucher hinter dem Musikpavillon, das hysterisch blaue Glänzen in den Augen der Agnes Deutsch, aber er sagte nur: Du siehst einem Mädchen ähnlich, das ich gekannt habe. In Wien? fragte Lilo. Er sagte: Nein, in Abbazia. Ein nettes Mädchen? fragte Lilo spitznäsig neugierig, sie standen da bereits auf dem Flur vor der fensterlosen Wendeltreppe, was hätte

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