Thennberg oder Versuch einer Heimkehr
vereisten wieder und wölbten sich der gespannten Haut der Lider entgegen. Wessen Augen sind das schon, die Augen eines fremden Menschen, dachte Richard Kranz, es ist ein fremder Schmerz fremder Augen. Dann, viel später, pochte jemand unten am Hauseingang, Sessel wurden zur Seite gerückt, viele Leute redeten durcheinander, und eine heisere Männerstimme sagte immer wieder: Die Russen, die Russen.
D
ieRussen, sagte Richard Kranz, alle behaupten, die Russen hätten sie umgebracht, aber ich sage dir, es stimmt nicht. Er stand vor dem Fenster, angezogen, schwach auf den Beinen, schief, schwankend beinahe, im Schlafzimmer des Heinrich Moravec, und ihm gegenüber, vor der Tür, wo vor ein paar Tagen, vor einer Ewigkeit, Jesus Christus im weißen Hemd und blauen Überwurf geschwebt hatte, stand jetzt ein Mann, dunkel, bärtig, melancholisch, Markus Löw.
Wie redest du da? fragte Markus Löw, es klang leise und quietschend, als wäre jedes einzelne Wort ein rostiger Eimer, den man an einer rostigen Kette emporzuziehen hat aus einem verschmutzten Brunnen. Was für Reden führst du da? fragte Markus Löw. Wieso sagst du zu mir, „ich sage dir“, wo man ja weiß, dass du es sagst und nicht ich, bist du am Ende auch noch stolz darauf, dass du von deiner Mutter reden gelernt hast? Und was willst du mit „alle behaupten“? Wenn es alle behaupten, dann behauptet es niemand. Und wieso kannst du sagen: „es stimmt nicht“? Woher willst du wissen, was stimmt? Ich weiß es, sagte Richard Kranz, er fror, vielleicht hatte er immer noch Fieber. Stolz bin ich nicht, sagte er, aber ich weiß, wer es gewesen ist. Und wenn du es weißt? fragte Markus Löw. Was ist dann, wenn du es besser weißt als alle anderen? Denn erstens: Woher sollst du es besser wissen? und zweitens: Wer wird es dir glauben, dass du es besser weißt? Richard Kranz schwieg eine Weile, weil er zwei Dinge auf einmal aussprechen wollte, zwanzig Dinge auf einmal, sie drängten sich auf, drängten sich zusammen in seinem Kopf, wollten ausgesprochenwerden, und dann, endlich, sagte er: Ich werde es beweisen.
Du wirst etwas beweisen? fragte Markus Löw quietschend und leise. Gerade du willst etwas beweisen, wo du glücklich sein sollst, dass man nicht dich erschlagen hat oder erschossen, wie man erschossen hat dieses Mädchen, um nicht dich zu erschießen, der du da gekommen bist, ohne dass man dich gerufen hat, nur weil irgendeinmal ein Direktor Kranz mit seiner Familie hier gewohnt hat, und wer hat damals den Direktor Kranz hergerufen? Um etwas zu beweisen, braucht man drei Dinge: Man braucht einen, der beweisen will, man braucht einen anderen, der ihn anhört, und man braucht etwas, das bewiesen werden soll. Und da steht einer, der will etwas beweisen, aber das ist auch schon alles, denn anhören will ihn niemand, und was er beweisen will, das ist längst vorbei, das Opfer ist unter der Erde und der Mörder läuft irgendwo herum. Ist er der einzige Mörder, der irgendwo herumläuft? Tausend Mörder laufen herum, zehntausend Mörder, und den einen wird man einsperren und der andere wird weiter herumlaufen und Gott wird ihn bestrafen oder auch nicht. Willst du vielleicht Gott spielen? fragte Markus Löw. Und wird das Mädchen lebendig, wenn du Gott spielst?
Sie ist weggegangen, sagte Richard Kranz, ich weiß nicht genau, wann das war, ich bin dagelegen, ich habe Fieber gehabt, bestimmt hat er sie fortgeschickt, irgendwie, unter irgendeinem Vorwand, er hat sie in den Wald geschickt und ist dann nachgegangen und hat sie erschossen. Man hat sie mit einer russischen Pistole erschossen, aberwarum könnte er keine russische Pistole haben, überall liegen ja Pistolen herum, deutsche und russische, eine russische Pistole zu haben ist nicht schwer. Und dann ist er zurückgekommen und hat sich noch ein zweites Mal zu mir gesetzt, und dann haben sie die Tote gebracht, und wer sollte es schon gewesen sein, natürlich die Russen.
Ist er auch ein erstes Mal bei dir gewesen? fragte Markus Löw. Richard Kranz sagte zuerst nichts und dann nickte er, und als Markus Löw nochmals fragte, sagte er: Ja, er ist auch ein erstes Mal da gewesen, und ich habe ihm alles gesagt.
Du sagst ja immer alles, nicht wahr? fragte Markus Löw. Du willst ja immer alles sagen und immer alles beweisen, weil du stolz bist, dass du alles sagen und alles beweisen kannst, und wann er das erste Mal bei dir gewesen ist, weißt du nicht mehr genau, und wann sie weggegangen ist, weißt du auch nicht, aber
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