Theo
sodass Theo unermüdlich dran saugt, bis sein Kopf rot wird.
Wenn sich dann noch immer kein Tropfen Milch gelöst hat, beginnt sich Theos Gesicht in Kummerfalten zu legen. Und es überkommen ihn immer heftigere Schübe von Unlust und Zweifel. Erst nur an der Tauglichkeit der Milchzufuhr, dann an der gesamten Existenz. Denn ohne Milch ist das Leben freudlos. Es tut richtig weh. Und Theo wünscht sich augenblicklich wieder in den für seine funktionierende Nahversorgung so beispielhaften Mutterbauch zurück.
Am Höhepunkt seines erbärmlichen Zustands besinnt er sich, ein »Easy Baby« zu sein, und beschließt, seine Verzweiflung der Außenwelt mit Pieps- oder Krächzgeräuschen, je nach Stimmpotenzial, kundzutun.Gleich darauf erscheint eine der beiden zuständigen schemenhaften Gestalten. Ist es Mama, gibt es sofort Milch. Ist es Papa, verzögert sich die Sache noch ein bisschen. Zum Glück hat Papa Lippen. An denen saugt sich Theo noch einmal beherzt fest – entweder im Glauben, er habe den Vorratsspeicher endlich gefunden, oder schlicht, um die Wartezeit zu überbrücken.
Optisch ist Theo noch nicht auf der Höhe. Seine Blicke finden nirgendwo Halt. Glaubt er, etwas erkannt zu haben, ist es auch schon wieder weg. Dann blendet er sich aus und klappt die Augen zu. Groß bleiben sie nur, wenn er sein Lieblingsbild studiert. Es besteht aus horizontalen schwarzen Stäben. Die verfolgt er mit stiller Andacht und Faszination der Reihe nach von unten nach oben. Wenn er am Ende eines Stabes angelangt ist, wirkt er meist ein wenig traurig. Entweder bedauert er die Vergänglichkeit, oder er hätte sich eine Pointe erwartet. Auf halber Höhe des vierten Stabes schläft er meistens ein.
Menschliche Gesichter findet er eher uninteressant. Sein Lieblingsporträt könnte das Phantombild eines Räubers sein. Aus der Kombination der beiden bevorzugten Zeichnungen (Gitterstäbe und Phantombild) lassen sich erste Rückschlüsse auf ein künftiges Hauptinteressensgebiet Theos ziehen.
Die Gerüche, die von Theo ausgehen, sind babygerecht. Er selbst kann sich (damit) ganz gut riechen. Meistens überwiegt die Duftnote der Körpercreme,manchmal setzt sich das Säuerliche von Milchresten in Mund und Rachen durch. Am Abend, nach dem Genuss von zwei Vitamintropfen gegen Rachitis, schwingt er eine leichte Alkoholfahne. An seine Umwelt stellt er geruchlich noch wenig Ansprüche.
Auf Musik kann er verzichten. Bei Frank Sinatra beginnt er zu gähnen. Das Glockenspiel eines Nilpferd-Mobiles über seinem Bett versetzt ihn in Furcht und Unruhe. Baby-Rasseln nerven ihn. Am friedlichsten stimmt ihn noch der elektrische Summton des Milch-Abpumpgeräts.
Theo lebt sich langsam ein
Wie es Theo geht? Danke, er kann nicht klagen. Die Umstände passen. Viel Freizeit. Wenig Stress. Gepflegtes Äußeres. Gesunder Schlaf. Geregelte Mahlzeiten. – Leider nur knausrige vier am Tag. Das kann auf Dauer nicht genügen. Da wird Theo mit seinen Verköstigern einmal ein ernstes Wort reden müssen. Eines von neun, die er bereits aussprechen kann.
Ein turbulentes Jahr ist vergangen, seit wir von Theo, dem Neugeborenen, erzählt haben. Theo nützt die Zeit. Er entwickelt sich. Er hat im Jahr fünf vor 2000 um ein Vielfaches mehr vom Leben gelernt als wir. Bei ihm bildet sich soeben das Urvertrauen. Er wird es gut gebrauchen können.
Wer Theo ist? Ein Baby. Irgendeines, möchte man meinen. Aber das ist ein Irrtum. Kein Baby ist irgendeines. Theo schon gar nicht. Er ist so besonders, wie jene ihn finden, an denen er reift. Die finden ihn ganz besonders. Das macht ihn ganz besonders.
Momentan ist Theo besonders fixiert. Nach vierzehn Monaten auf der Welt ist er auf den Geschmack gekommen. Essen, das allein schon ist es, wofür es sich lohnt, täglich aufzuwachen. Und zwar möglichst früh, um nichts aus der Küche zu versäumen.
Theo isst alles. Er unterscheidet dabei Grundnahrung von Feinkost. Gerichte der ersten Gruppe kommen von alleine auf ihn zu (er muss nur den Mund aufmachen).Um die Beschaffung der zweiten hat er sich selbst zu kümmern. Automatisch treffen ein: Milch im Morgengrauen, Marmeladebrot zum Frühstück, Hipp zu Mittag, Banane zur Jause, Brei oder Müsli in den Abendstunden.
Das ist freilich nur Theos Notprogramm, die eiserne Ration, der Überlebensbissen, den ihm keiner nimmt. Vorrang genießen die jeweiligen Menüs der Mitmenschen, imposant allein schon durch ihre gewaltigen Ausmaße auf den Tellern. Erwachsenen-Schnitzel – das sind
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