Theo
freien Raum.
5. Theos Verhalten im Verkehr kann als beispielhaftbezeichnet werden. Er hatte seine Pädagogen monatelang beim Fahren studiert. Er kannte die Begriffe Stoßzeit, Baustelle und Stau; er konnte den Ellbogen beim offenen Fenster hinaushängen lassen und dabei mit dem Zeigefinger Kreise im Ohr drehen. Und er konnte sich mit der rechten Hand das linke Schulterblatt kratzen und dabei mit zwei Fingern der linken Hand gleichzeitig in beiden Nasenlöchern bohren – wenn auch nicht lange, denn atmen musste er ja auch noch.
Er verstand es so gut wie seine beiden Oberhäupter, andere, unverhofft auftauchende Verkehrsteilnehmer spontan anzusprechen (»Teiß-Taxler«, »Teiß-Radler«, »Teiß-Polizei«). Er wusste, wie man sich unter Autofahrern grüßte: kräftiger Schlag mit der rechten offenen Hand auf die eigene linke Schulter. Ruckartiges Hochziehen der linken Faust bei gleichzeitigem Senkrechtstart des Mittelfingers. In dieser Position einige Augenblicke verharren und abwarten, ob und in welcher Form der Gruß erwidert wird.
Er verstand es, solche verschworenen Gesten der Zusammengehörigkeit auch in Worte zu kleiden. Nach Mamas einmal nach einer Notbremsung verwendetem Ausspruch »Foah weida, Depperter!« (aus dem Wienerischen für »Fahr weiter, dummer Mensch!«) war Theo wochenlang süchtig. Bei jeder Autofahrt musste er ihn trainieren, lautstark zwar – denn beim Flüstern verstand ihn ja keiner –, aber leider nur ein einziges Mal bei offenem Fenster. »So etwas können die Menschenin die falsche Kehle bekommen«, meinten die Pädagogen. – So seltsam drücken sie sich immer aus, wenn sie Willkürakte setzen und ihnen dann die Argumente fehlen.
Motorisch gerüstet, der Verkehrssprache mächtig und zur ersten echten öffentlichen Ferrari-Besteigung wild entschlossen betrat Theo, seinen Papa an der Hand, nun also die große Halle, wo die in den schönsten Farben glänzenden Sportautos schon auf ihn warteten – großteils sogar mit einladend geöffneten Türen.
Die einzig quälende Frage, die für Theo in dieser Situation noch offenblieb, war, welchem Ferrari er zuerst ans Lenkrad rücken sollte. – Von solchen Problemen konnte er gar nicht genug kriegen.
Er entschied sich für den leuchtend roten Wagen, um den sich bereits viele Menschen scharten. Interessanterweise standen sie alle mit großem Abstand kreisförmig um ihn herum. Und vor ihren Bäuchen spannte sich ein Seil. »Das ist eine Absperrung«, sagte der Papa. »Da kann man nicht durch.« – Das war einer seiner schlechteren Scherze, denn Theo musste sich nicht einmal bücken, um unter der Schnur durchzuschlüpfen und dem Fahrersitz zuzustreben.
»Wen haben wir denn da?«, fragte eine sehr laute Stimme, die durch den Saal hallte. Sie gehörte dem Mann, der als Einziger nahe beim Ferrari stand und ein schwarzes Ding zum Mund hielt, davon aber weder abbiss noch daran schleckte. »Hier kommt unser jüngster Testpilot«, sagte er, und die Menschen bogen sichvor Lachen. Haha! – Das war ein typischer Erwachsenenwitz der Sorte, die Theo hasste. – Alle amüsieren sich, und keiner weiß, warum. Der Mann sollte Theo lieber beim Einsteigen behilflich sein.
Plötzlich war der Papa da und hob Theo hastig hinter die Absperrung. – Das wagte er besser nicht noch einmal! Theo riss sich los und steuerte diesmal etwas eiliger dem Ferrari zu. »Unser junger Mann ist offensichtlich nicht zu bremsen«, verkündete jetzt der Mann und verstellte Theo den Weg. – Haha, selten so gelacht! Theo überlegte, ob er ihm vor allen Leuten die Zunge zeigen sollte. Aber dafür war er zu gut erzogen.
Nun war Papa auf einmal wieder da und wurde ernsthaft lästig. »Ich will einsteigen«, schrie Theo. »Das darf man nicht!«, antwortete der Papa und hinderte Theo mit Gewalt daran, das Lenkrad zu erklimmen. Unter dem Gelächter des Publikums wurde der heulende Theo abgeschleppt. – Eines der dunkelsten Kapitel in seinem Leben. Damals hasste er alle Menschen.
Zwischen den Tränen erkannte Theo wenig später schemenhaft die Umrisse eines gelben Ferraris, der nur von einem einzigen Mann bewacht wurde. Da schöpfte er noch einmal Hoffnung. »Du musst den Mann fragen, ob du dich hineinsetzen darfst«, riet der Papa. »Frag du«, sagte Theo. »Wenn du fragst, sind die Chancen größer«, meinte der Papa, der Angsthase.
Theo ging zu dem Mann hin, zog an seinem Hosenbein und sagte: »Darf ich Ferrari fahren?« – Der schaute zunächst nur dämlich. Also wiederholte
Weitere Kostenlose Bücher