Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition)
Intimität lassen sich industrialisieren. Die immer leistungsfähiger werdenden Simulationstechnologien erlauben es dann zum Beispiel, einfache Akte der verbalen Informationsweitergabe – Durchsagen an Bahnhöfen oder in U-Bahnen – zu industrialisieren: Ein- und dieselbe synthetisch erzeugte Stimme reproduziert den immer gleichen Ablauf von Ansagen. Nur im Ausnahmezustand, der nicht vorhersehbar war, in der Katastrophe, schaltet sich noch die unverwechselbare Stimme eines lebenden Individuums ein, dessen Stimme dann panisch klingt oder vor Angst überhaupt versagt.
Auf der produktionslogischen Ebene waren daher nicht die monströsen Anlagen der Schwerindustrie für die seit dem 18. Jahrhundert entstehende moderne Gesellschaft entscheidend, sondern die Standardisierung, Mechanisierung und Angleichung menschlicher Arbeitsprozesse an vorgegebene Abläufe. Die Taylorisierung der Arbeit und das Fließband sind nur eine Erscheinungsform dieser Logik, vordergründig selbstbestimmte Telearbeit ist eine andere. Unter dieser Perspektive wird schnell klar, daß gegenwärtig nicht die Wissensgesellschaft die Industriegesellschaft ablöst, sondern umgekehrt das Wissen in einem rasanten Tempo industrialisiert wird.
Die euphemistisch gemeinten Stichworte der Wissensgesellschaft sprechen selbst eine verräterische Sprache. Es geht, ist etwa von Forschung und Entwicklung die Rede, um Produktionsstätten eines Wissens, das möglichst rasch in Technologien und damit in die Zone der ökonomischen Verwertbarkeit transferiert werden kann. Wer von Universitäten als Unternehmen spricht, die, geführt von Wissensmanagern, Wissensbilanzen legen und daran gemessen werden, ob das darin offenbar gewordene Verhältnis von Input und Output rentabel erscheint, muß all jene industriellen Verfahren und die ihnen zugrundeliegenden betriebswirtschaftlichen Parameter auf das Wissen anwenden können, soll das Ganze irgendeinen Sinn ergeben.
Die Nähe zumindest naturwissenschaftlicher Verfahren zur Logik der industriellen Produktion läßt solch eine Transformation vorab durchaus plausibel erscheinen. Das naturwissenschaftliche Experiment setzt nämlich ebenfalls auf die Herstellung identischer Ergebnisse mit identischen Methoden unter identischen Bedingungen. 19 Ein Experiment gilt dann als gelungen, wenn es zumindest im Prinzip mit denselben Methoden unter denselben Randbedingungen mit denselben Ergebnissen reproduziert werden kann. Die Nähe des naturwissenschaftlichen Verfahrens zur industriellen Produktion wurde dann auch schon frühzeitig erkannt und beschrieben, und die Interaktion zwischen der Verwissenschaftlichung der Produktion und der Industrialisierung der Wissenschaft gehört zu den Standardthesen vieler Modernisierungstheorien. Wohl ist ein Labor noch keine industrielle Produktionsstätte, aber es gehorcht einer ähnlichen Logik und kann rasch zu einer solchen werden: Alle Atomreaktoren entspringen letztlich jenen Versuchsmeilern, in denen unter Laborbedingungen die Möglichkeiten der Nutzung der Kernenergie erforscht und ausgetestet wurden.
Anders mochte es ursprünglich mit jenen theoretischen Grundlagenforschungen und den Geisteswissenschaften insgesamt gewesen sein, die einem anderen Prinzip gehorchten, das mit Wilhelm von Humboldts Worten von der »Einsamkeit und Freiheit« des Gelehrten noch immer am besten beschrieben ist. 20 Überall dort, wo es um Erkenntnisse geht, die keinen standardisierten und reproduzierbaren Methoden entsprechen, weil Begabungen, Individualität und, romantisch gesprochen, Genialität eine Rolle spielen, lassen sich auch keine derartigen Verfahren für deren Gewinnung angeben und institutionalisieren. Solche Wissensproduktion ähnelt dem individualisierten Handwerk, und bis zu den Universitätsreformen waren die Hohen Schulen auch in einer Weise organisiert, die das personale Verhältnis von Meister und Lehrling zu ihren Grundbedingungen rechnete. Daß der lateinische »Magister«, durch Lautverschiebungen nur wenig entstellt, als deutsches Lehnwort zum »Meister«, als englisches zum »Master« wurde, ist kaum noch bewußt. Die im Zuge einer vermeintlichen Internationalisierung vorgenommene Ersetzung des akademischen Grades des Magisters durch den Master demonstriert so nicht nur, daß man den selbsternannten Eliten nicht einmal mehr die einfachsten etymologischen Zusammenhänge der europäischen Sprachen zumuten kann, sondern damit soll auch in den Abschlußdiplomen jene Standardisierung und
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