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Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition)

Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition)

Titel: Theorie der Unbildung: Die Irrtümer der Wissensgesellschaft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Konrad Paul Liessmann
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symbolischen Formen, in denen sich die Menschen über sich selbst und ihren Status in der Welt verständigen. Wenn wir viele dieser Wissensformen nun als mythologisch dechiffrieren und die dazugehörigen Techniken als magische Praktiken beschreiben wollen, hören sie damit nicht auf, ein Wissen zu sein, das gewonnen, angewandt und weitergegeben werden konnte. Was die modernen Gesellschaften von solchen Formationen unterscheidet, ist der Anspruch, mit »Wissenschaft« ein Verfahren entwickelt zu haben, das die Gewinnung und Vermittlung eines intersubjektiv überprüfbaren Wissens darstellt, welches der Wirklichkeit angemessener ist als mythologische oder religiöse Weltdeutungen. Solch ein Wissen erlaubt nicht nur effizientere und komplexere Technologien, sondern es kommt ohne transzendente, metaphysische oder durch Traditionen verbürgte Zusatzannahmen aus. Es kann deshalb universal konzipiert werden, da es für dieses Wissen keiner anderen Voraussetzung bedarf als der menschlichen Vernunft.
    Es ist dieser Typus von wissenschaftlichem Wissen, nicht Wissen schlechthin, der die moderne Zivilisation prägt. Unbestreitbar ist, daß nicht nur die Techniken dieser Zivilisation, sondern das Leben insgesamt zunehmend diesem Wissenstypus akkordiert werden, ungeachtet der ungebrochenen Kontinuität von magischen Praktiken, spirituellen Versprechungen, Heilslehren und Okkultismen aller Art. Diese Form einer wissenschaftlich-technischen Zivilisation entwickelt sich im Prinzip – mit nicht ganz unwesentlichen Vorspielen in der Antike – in Europa seit der Renaissance. Kaum ist die Wissensgesellschaft als Novum verkündet, finden sich deshalb auch schon die Historiker, die diese Wissensgesellschaft wenigstens bis in die frühe Neuzeit zurückdatieren und damit gehörig relativieren. 21
    Der gegenwärtige Zustand könnte unter dieser Perspektive wohl als Intensivierung und umfassende Durchsetzung eines seit langem bekannten Prinzips aufgefaßt werden, was wohl kaum ausreicht, um einen neuen Typ von Gesellschaft zu kreieren. Zudem funktioniert dieses Prinzip wissenschaftlicher Rationalität, das für die Wissensgesellschaft kennzeichnend sein soll, gerade einmal in den Kernbereichen der Wissenschaft einigermaßen klaglos. Wollten wir Wissen im Sinne der europäischen Tradition auch nur als »wahre, gerechtfertige Überzeugung« bestimmen, wäre ein Gutteil dessen, was in der Wissensgesellschaft zirkuliert, kein Wissen. 22 Schon dort, wo es um technische Umsetzungen geht, verliert sich die begründende Vernunft mitunter als Maßstab und wird durch jene Hybris ersetzt, die die alten Mythen als verhängnisvolles Moment der Conditio humana zu diagnostizieren wußten; und dort, wo es angeblich um die Verwissenschaftlichung von Lebens- und Kommunikationsformen geht, fragt man sich allen Ernstes, ob dies in einem emphatischen Sinn noch rational genannt werden kann.
    »Wissenschaftlich« ist hier oft nicht mehr als ein Etikett, das man sich aus Gründen des damit verbundenen Prestiges zulegt, um Glaubwürdigkeit und Erfolgschancen zu erhöhen. Unter Wissenschaftstheoretikern ist es schon umstritten, ob solch ehrwürdige Disziplinen wie die Ökonomie oder die Psychoanalyse überhaupt Wissenschaften sind. Erst recht ist es fraglich, ob etwa die moderne Zukunfts- und Trendforschung, an den Parametern wissenschaftlicher Rationalität gemessen, den alten Auguren und Weissagern überlegen ist; ob Werbepsychologie und Kommunikationsforschung über den Menschen und seine Beeinflußbarkeit mehr »wissen«, als in jedem antiken Handbuch der Rhetorik immer schon nachzulesen war, bleibe einmal dahingestellt. Und dort, wo eine der prosperierendsten Dienstleistungsindustrien unserer Tage am Werke ist, das Beratungsgewerbe in all seinen Facetten, von der Politik- über die Unternehmens- bis zur Gesundheits- und Lebensberatung in therapeutischer oder auch nichttherapeutischer Absicht, läßt sich mit Fug und Recht sagen, daß von der Wissenschaft nicht mehr geblieben ist als deren mitunter bis zur Karikatur aufgeblasene Gestik.
    Wohl gibt auch solches Wissen vom Menschen sich die Formder Wissenschaft, ohne allerdings deren Kriterien auch nur im Ansatz genügen zu können. Mit Recht werden die führenden Experten dieser konsiliaren Veranstaltungen gerne als Gurus apostrophiert – die Klientel weiß, daß sie den Analysen und Vorschlägen einfach glauben muß, denn zu wissen gibt es dabei nichts. Mitunter ist es geradezu atemberaubend, wie leichtgläubig,

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