Theres
schon zu weit gegangen: es gibt kein Anderswohinwollen mehr.
*
01.50. Wieder in der Toilettenkabine feuchtet sie die Streifen sorgfältig an und zwirbelt sie aufs Neue. Schwierige Berechnung: Die Rettungsleine muss dünn genug sein, um durch die Maschen des Netzes zu passen, gleichzeitig aber ausreichend sorgfältig geflochten sein, um die Last des Körpers zu tragen.
Steigt wieder auf den Stuhl. Diesmal geht der Strick hindurch. Mit den Fingernägeln gelingt es ihr, ihn auch durch die Maschen zurückzuziehen. Der Stuhl unter ihr schwankt; denkt: Muss im Gleichgewicht bleiben. Es ist, als hätten jene, die über solche Dinge hier die Oberaufsicht haben, beschlossen, sie vor diesem Tun zu testen: Willst du nicht mit Leib und Seele, wird es dir auch nicht gelingen. Die Angst hat jetzt harte, scharfe Kanten. (Weich von mir mit dem Blick, lass mich einen Augenblick ungesehen ruhen.)
*
02.05. Mit der Schlinge um den Hals, den Kopf in einem unnatürlichen, auf die Dauer vermutlich qualvollen Winkel zurückgedreht.
Denkt: Es wird wehtun.
Denkt: Muss darauf vorbereitet sein .
Darüber hinaus gibt es nicht mehr viel zu denken.
*
02.15. Sie fühlt die Abwesenheit des Wassers als Tiefe im Schweigen selbst; versucht sich die Zelle voller Wasser vorzustellen. In der Abwesenheit des Wassers zeigt sich stattdessen ein Licht, das wie aus Wasser ist; das Licht gleicht dem, das im Sommer über Jena lag: dieses sich weit erstreckende weiße Licht, das alle Schatten, alle Konturen auslöschte, selbst die Dinge verschwanden in ihm; und sie rennt durchdiese undurchlässige lichtgetränkte Sommernacht, allein und zusammen mit dem Bruder, den sie nie gehabt hat und der für immer ein künftiger bleiben wird. Ulrike! (erklingt der Ruf aufs Neue; doch jetzt ist es wieder der Vater, der aus seinem hohen Turmzimmer ruft:)
Wo bist du, Ulrike?
Es ist Zeit heimzukommen, Ulrike!
»Papa«: der Rufer, der Ordner: der allmächtige Herrscher über die Horizonte dieses Meeres. Aus ihm und in ihn zurück strömt alles Licht.
Mit festem Griff fasst sie nach der Hand, die sich ihr entgegenstreckt, und wenn es unerträglich ist, wird es nicht mehr lange unerträglich sein. Früher oder später überwindet die Lust stets die Erinnerung an den Schmerz, und die Lust aus der Dunkelheit in den taghellen Wasserraum hinabzusteigen ist stark, stärker als alles, was sie je gehalten hat.
(Und wenn sie noch zögert …? Jedes Zögern ist ein Spiel mit der und für die Macht des Gegners, und der Gegner zögert nie. )
Der Stuhl unter ihr schwankt; die Rettungsleine spannt sich, sie fällt –
Leichenschau
Der Leichnam von Ulrike Marie Meinhof (geb. 07.10.1936) wurde am Sonntag, dem 9. Mai 1976, um 07.34 Uhr aufgefunden, als das wachhabende Personal in Stuttgart-Stammheim, wie es die Anstaltsregeln vorschreiben, routinegemäß die Türen zu den Zellen der Inhaftierten öffneten. Die Tote wurde am Gitter des Zellenfensters hängend vorgefunden, das Gesicht zur Tür gewandt und mit dem linken Bein nur einen knappen Zentimeter von einem ans Fenster gestellten Stuhl entfernt. Der Gefängnisarzt, DR. HELMUT HENCK , der nur wenige Minuten nach dem Öffnen der Zellentür zur Stelle war, konstatierte bei einer ersten Untersuchung, dass der Körper bereits total ausgekühlt war und sich auf den Beinen und Unterarmen der Toten »zahlreiche Leichenflecken« gebildet hatten; das führte zu der Feststellung, dass der Tod »mehrere Stunden« vor dem Auffinden eingetreten war. Bei der später von den Professoren Rauschke und Mallach vorgenommenen Obduktion fand man unter den Fingernägeln der Toten Fragmente desselben Materials, aus dem die Handtücher der Justizvollzugsanstalt bestanden. Diese Tatsache, einschließlich des gebrochenen Zungenbeins und des Fehlens von Blutergüssen um die Augen, indiziert, dass die vermutliche Todesursache Ersticken durch Erhängen ist. Eine Unklarheit in Rauschkes und Mallachs Obduktionsprotokoll war so ausgelegt worden, als sei ein Sperma-Test positiv ausgefallen. Die hier angesprochene Probe ist ein sogenannter Phosphatase-Test, der routinemäßig vorgenommen wird und dem Nachweis bestimmter Fermente dient, die nicht nur im Sperma, sondern in jedem Eiweiß und auch als Folge bakterieller Verunreinigungen zu finden sind. Alle Anschuldigungen über die Ausübung sexueller oder anderer Gewalt und dass die Gefangene Meinhof auf Grund selbiger ums Leben gebracht worden sei, können nur ausdrücklich zurückgewiesenwerden. Die
Weitere Kostenlose Bücher