Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Theres

Theres

Titel: Theres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
Vom Netzwerk:
Sie müssen eingeschlafen sein, Herr Herold.
    Trotz des Polizeigriffs dasselbe Wohlwollen: wie eine straff sitzende Maske auf den Gesichtern der beiden Männer. Ihre Frau hat angerufen. – Sie macht sich Sorgen. – Wir sind gekommen, um Sie nach Hause zu geleiten. Et cetera. In der schwarzen, gepanzerten Limousine, die im Konvoi durch Wiesbadens winterlich trockenes Morgengrauen fährt, geht Herold ein ketzerischer Gedanke nicht aus dem Kopf, etwas das ihm die Gramsci-lesende Meinhof hätte vorgesprochen haben können:
    DAS LEGALE LAND IST NICHT DAS
WIRKLICHE LAND
    Und was ist wirklich? Nicht der Gefangene der Strukturen zu sein, nicht einmal deren Herr (Herold hat Hegel stets misstraut), sondern die Struktur selbst zu sein : das Raster, durch das alles andere sichtbar gemacht wird.
    Einige Monate später zieht er die volle Konsequenz aus dieser Erkenntnis: lässt Bett, Computer, Bücher und sonstige lebenserhaltende Utensilien in sein Büro im Wiesbadener BKA -Haus schaffen. Sein neues Heim nennt er sein Stammheim. Journalisten, die ihn interviewen kommen, glauben, er scherze. Er scherzt nicht.

Stammheim I
    (»Die endgültige Passagierliste«)

    Neuer ständiger Aufenthaltsort auf der Zellenebene sieben, Stuttgart-Stammheim. Nachdem Herold, wenn auch widerstrebend, darauf eingegangen war, das Licht zur Nachtzeit auszuschalten, ist das Leben, wenn auch nicht annehmbar, so doch wenigstens erträglicher geworden. Verborgen in ihrer neuen Dunkelheit bestreicht Ulrike Nacken und Hals mit Parfüm und schminkt sich die Lippen rot, um mit ihren alten Freunden und jetzigen Zellenkameraden zusammenzutreffen: dem Hirntrust der RAF , sicher eingebunkert im bestbewachten Gefängnis der Welt.
    Wie verhalten sie sich da, als Ulrike M. erneut vor sie hintritt, diesmal als physische Person und nicht nur in Form abstrakter Zornausbrüche über das Info-System? Ensslin wendet den Blick zum Zellenboden ( der Schwarze Vampir ist seit dem letzten Mal offenbar ein bisschen verblasst ) und lächelt. Doch hinter dem Lächeln sieht Ulrike deutlich die neue scharfe Kontur, die ihr Gesicht von der Schläfe bis zum spitzen Kinn prägt. In Ensslins Gesicht gibt es jetzt »Eislinien«, der Blick – früher durch Mascara beschattet – ist hart und scharf. Sie schützt sich und andere, indem sie ihn abwendet, doch immer (wie jetzt) mit einem Lächeln, wie um zu sagen, dass sie über Wissen verfüge, zu dem die anderen unmöglich Zugang bekommen könnten. Auch Baader hat sich verändert. Ohne den schwarzen Schnurrbart wirkt sein Gesicht schwerer. Wie ein Steinblock ruht es auf seinen breiten, eingesunkenen Schultern; und er schaut sie an: schaut nur, ohne den Blick abzuwenden; dann schaut er nicht mehr, der Blick aber bleibt noch immer hängen, als sei es sein selbstverständliches Recht, in ihrem Gesicht Wohnung zu beziehen. Nur Raspe ist unverändert; in seiner grenzenlosen Lethargie anwesend und abwesend zugleich, schleppt er seinen Körper von einem Flurende zum anderen, um ihn dort, wo es ihm geeignet erscheint, einfach hinzupflanzen, über einen Plattenspielergebeugt oder ein Buch: Hallo, kannst du mir bei dem hier helfen, Ulrike? Als sei sie für ihn immer da gewesen, irgendwo, doch jetzt auch in Hörweite.
    Nach der Wiedervereinigung, von keiner Seite durch größeren Enthusiasmus geprägt, wird bald ein neues System an Gepflogenheiten entwickelt, folgende feste Punkte umfassend:
    1. »Kleine Betstunde« (Morgendliche Zusammenkunft mit Baader. Gebührende Würdigung desselben. Anschließend Beginn des Begriffsexerzierens: Besprechung vorhergehender – fehlgeschlagener – Maßnahmen; Vorschlag neuer: Diskussion)
    2. »Stunde der Selbstkritik« (Zeit für alle, sich hinzustellen und Farbe zu bekennen, indem Irrtümer eingestanden werden. Selbstverständliche Ausgangspunkte: Unzulänglichkeit, mangelnde Motivation, Illoyalität gegenüber dem Führungskader, d. h. Baader)
    3. »Prozessvorbereitungen« (Besprechung mit den Anwälten über das Vorgehen bei der Verteidigung, übergreifende Ziele und Ausrichtung. Wort für Wort, Satz für Satz, werden den Gefangenen die Repliken in den Mund gelegt: Wiederholung zum weiteren Einprägen)
    4. »Kleine Ruhepause« (Zusammenfassung und Bearbeitung der Punkte 1-3 oben. Zeit, um die Anweisungen aus der Betstunde zusammen mit den Bekenntnissen der Selbstkritikstunde und den Darlegungen der Anwälte wirken zu lassen: ihr und den anderen Gefangenen zur Erbauung).
    Doch hinter all diesen festen

Weitere Kostenlose Bücher