Theres
Haltepunkten findet eine andere Bewegung statt. Allein oder zusammen mit den anderen wird Ulrike sich dessen immer mehr bewusst. Eine Art Gleichzeitigkeit, oder richtiger: ein Zusammenfallen mehrerer Zeiten, gleichzeitig präsent in ein und demselben Jetzt. Ulrike schaut auf ihr Fensterkreuz, sieht andere Kreuze; sieht den nackten Betonhimmel im Gang, der die Zellen miteinander verbindet, sieht andere Himmel (wie den über Jena im Morgengrauen, bevor aus dem wenigen noch vorhandenen Licht Schatten ausgefällt wurden). Sie hört Wasser spülen und in den Toiletten nachlaufen,und es ist nicht nur Wasser: es ist etwas, das sich formt und verdichtet: eine Kraft, größer als sie selbst, der sie Widerstand entgegenbringen kann, doch die ihr früher oder später dennoch all ihre Worte und Vorsätze entreißen und sie selbst mit sich nehmen wird, wohin ist ungewiss.
Die Erkenntnis über diese andere Anwesenheit hinter ihren bewussten Gedanken und Erinnerungsbildern lässt sie unkonzentriert werden; in den Augen der anderen »lasch und ineffektiv«: eine unweigerliche Quelle der Irritation. Ulrike, du hörst nicht zu , heißt es dann; oder: Ulrike, wenn du nicht vorhast, an der Diskussion teilzunehmen, kannst du wenigstens aufhören, sie zu behindern. Am härtesten von allen in ihrem Urteil ist Ensslin, die neue Ensslin, die Frau mit den »Eislinien«. Du hattest immer etwas Mechanisches an dir, Ulrike. Man zieht dich auf, und dann läufst du eine Weile. Aber nenne die Diskussion, in der du anders als im Affekt funktioniert hast.
Während der »kleinen Ruhepause«, den Stunden am späten Nachmittag, die für Übungen in Disziplin und innerer Moral zweckgebunden sind, geschieht es immer öfter (sie liegt rücklings auf ihrem Bett: halb schlafend, halb wach), dass andere die Zelle betreten und ihre Anwesenheit kundtun; stets durch ihre Stimmen: Worte, mitunter ganze Sätze, aus ihrem Zusammenhang gerissen oder in vollkommen neue Zusammenhänge gestellt. Selten sind es Worte oder Sätze, an deren Ursprung sie sich erinnert (der Abstand zu ihrer Erinnerung ist zu groß, zumindest um diese Tageszeit); wenn die Stimmen zu ihr sprechen, dann aus einem anderen Teil ihrer selbst, von einem Ort, tiefer als jede Erinnerung.
REJOICE, REJOICE, YOU’VE GOT NO CHOICE
Eine Melodie von weither, doch mit einer Stimme, die klingt, als spreche sie direkt aus dem grauen, dämmrigen Nachmittag vor dem Zellenfenster. Sie liegt auf dem Bett und liest Melvilles Moby Dick , Ensslins »Bibel«, sie kursiert jetzt bestimmt zum fünften Mal durch die Zellen, und vielleicht ist da ja etwas an Melvilles altertümlichem, in dunklen Kadenzen steigendem und fallendem Englisch des 19. Jahrhunderts(oder ist es das schwindende Herbstlicht draußen, dass dieses unbehagliche Gefühl mitbringt, dass sich die Zelle gewissermaßen aus ihren Halterungen löst und zu treiben beginnt): denn plötzlich meint sie oben im hohen Turmzimmer des Vaters zu stehen und über die steil abfallenden Hausdächer des heimischen Villenviertels zu blicken, und dort wie hier herrscht dieselbe dunkle Halbdämmerung: zerlaufene Anthrazitfarbe mit dem Geschmack nasser Erde, Braunkohlenrauch und fade, durch Feuchtigkeit halb aufgelöste Vegetation, und eine Stimme, es hätte die des Vaters sein können, spricht so dicht neben ihr, dass sie ihren Körper wie eine Welle plötzlicher Wärme durchschwemmt: Gott ist wie das Meer , sagt diese, ist in ständiger Bewegung und Verwandlung , und sie denkt, dass sie in diesem Meer sein will, sich in die kleinste Dünung kleiden und sich an Nachmittagen wie diesem einfach forttreiben lassen will, getragen von diesen unsichtbaren Strömen, die nur verstanden werden können als Gedanken des Meeres ; erneut ist es die Gegenwart des Vaters, die sich ihr auf irgendeine Weise in Worte übersetzt, und er hätte ihr seine Karten zeigen können, die er in den abschließbaren Rollschubladen unter den Bücherreihen verwahrte: Karten so brüchig und feuchtfleckig, dass sie sehr wohl im Wasser hätten ruhen können, mit Äderungen, die Konturen fremder Inseln zeichnen; und er hätte sagen können (nun flüstert er beinahe): Die am wirklichsten ist, ist die am tiefsten Gesunkene von allen , und vielleicht sagt er es sogar, obwohl sie es nicht hört. Den Blick jetzt auf ’s Fenster gerichtet, doch ohne Halt zu finden, in dem, was dort drinnen ist, nur diese Gewissheit: dass sich das Haus im Meer bewegt, in Jena, wie sich alles in diesem Meer bewegt bis weit
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