Theres

hinauf aufs Land: so weit , der Vater zeigt es, den Handrücken nach oben gedreht: wenn alle Abstände aufgehoben sind.
    Es klopft an den Leitungsrohren. Ulrike blickt auf: es klopft wieder. Zweimal. Das abgesprochene Signal zum erneuten Sammeln. Nein, drei: dann ist es Ensslin, die ruft. Und Ulrike denkt: So ist es immer gewesen, nur ich habe es vergessen. Das ist der natürliche Zustand. Eine Welt, an die Oberfläche gebracht, und dort: zerschrien. Was bleibt, ist: Aggression (als einzige Form des Auslebens); ständiger Widerstand (gegen alles, was du unternimmst); und Hass (weil du nicht die bist,als die sie dich haben wollen. Doch als wen sie dich haben wollen, das wechselt: Nur die Forderung bleibt konstant).
    Es klopft erneut an den Rohren. Geh hin, trag die rote Lippenmaske auf; sei wiedererkennbar . Was du dir auch vornimmst, versuch es jedenfalls zu sein.
    *
    (Gruppensitzung mit Ensslin)
    Im Unterschied zur morgendlichen »Betstunde« macht Ensslin jetzt viel Gewese darum, für die Teilnehmer eine lockere, entspannte Atmosphäre zu schaffen, ihr lächelnder Blick in Richtung Fußbodenoder Deckenleisten ist jedoch derselbe; die Eislinien verschwinden nicht.
    Das diesmalige Anliegen: Richtlinien für eine künftige Gegenstrategie zu entwickeln.
    Als Diskussionsgrundlage hat Ensslin nun ein Kapitel aus Maos Militärpolitischen Schriften zum Thema »aktive und passive Verteidigung« gewählt. Text:
    Der strategische Rückzug ist eine planmäßige strategische Maßnahme, der sich eine schwächere Armee angesichts eines überlegenen Gegners, dessen Angriff sie nicht rasch zunichtemachen kann, bedient, um ihre Kräfte zu erhalten und einen günstigen Zeitpunkt für die Zerschlagung des Gegners abzuwarten.
    Auslegung: Ein strategischer Rückzug ist eine notwendige Maßnahme, wenn man eine starke Gegenoffensive einleiten will. Die Voraussetzungen sind vorhanden: die Konzentration der Gefangenen in einer zentralen Einheit (Stammheim) wie auch die Reorganisation der Kommandobrigaden unter der Obhut des »legalen Arms« der RAF (Anwälte). Notwendige Maßnahmen: Anschläge gegen »weiter oben« in den Gesellschaftshierarchien richten (Ziele außerhalb der Bundesrepublik sollten aus taktischen Gründen nicht ausgeschlossen werden); eindeutigere Kaderbildung innerhalb der Strafanstalten. Das Netz weit auszuwerfen – erneut wird Mao zitiert – bedeutet hier, unsere Kräfte in einem engen Radius zu konzentrieren. Das heißt: äußere Schlagkraft erfordert innere Konzentration.
    Hast du das Buch dabei? Ensslin zu Meinhof. (Aber Ulrike hat nur einen Blick für das Zellenfenster, auf dem plötzlich einsetzender Regen in Streifen hinabläuft.)
    (Erneut eisiger Blick: Konzentration; ist das ein Fremdwort für dich, Ulrike? )
    Ensslin macht weiter mit ihrer Auslegung des Buches, das zum Lesen zirkuliert. Moby Dick (»der weiße Wal«) ist der deutsche Polizeistaat: das Böse, verkörpert in einem riesigen, kraftvollen, doch niemals vollkommen sichtbaren Körper. Die Besatzung des Schiffes Pequod ist die merkwürdig geläuterte und gestählte Schar, versammelt auf der »Kommandobrücke« (Stuttgart-Stammheim, Zellenebene 7), die keine Anstrengungen scheuen wird, bevor der weiße Wal niedergekämpft ist.
    Ensslin sagt, sie habe seit einiger Zeit ein Verzeichnis (»die endgültige Passagierliste«) aufgestellt, mit Namen, dem Personenregister des Romans entnommen:
    ANDREAS BAADER (Befehlshaber des Schiffes) ist AHAB
    HORST MAHLER (fanatischer Operator und Rechnungsführer)
    ist KAPITÄN BILDAD
    JAN-CARL RASPE (der Tüftler) ist ZIMMERMANN
    Und Ensslin selbst? – Gefragt danach kann sie ein Lächeln nicht unterdrücken:
    GUDRUN ENSSLIN (als Revolutionsehefrau) ist SMUTJE .
    Teilnehmer: Wer?
    Ensslin: Der Schiffskoch, natürlich; der für die innere Reinigung verantwortlich ist und alle Tassen und Töpfe sauber hält.
    Meinhof (ohne den Blick von der regennassen Scheibe zu nehmen): Eigentlich empfindet man ja eine gewisse Sympathie für den Wal.
    Ensslin: Was um Himmels willen sagst du da?
    Meinhof erneut: Das ist die einzige Gestalt, die sich nicht zur sichtbaren Zielscheibe macht, die es versteht, in ihrem richtigen Element aufzugehen und sich bei Bedarf zu verwandeln.
    Ensslin nimmt ihre Smutje-Gestalt an; ihr Blick blitzend, schneidend. ( Du bist schließlich bis jetzt noch eine Namenlose, Ulrike. ) Das Lächeln des Blicks verrät: Wenn es Zeit ist, Ulrike zu taufen, wird es nach dem Vorbild einer Gestalt außerhalb der