Theres

Logistikkarte auch jetzt. Bomben detonieren weiter; Munitionslager werden geleert; woraufhin Waffen gefunden werden in einer Vielzahl neuer »aufgeflogener« Wohnungen und Kommandozentralen. Obendrein weisen alle Anzeichen darauf hin, dass die neue Terroristengeneration in der Hierarchie immer höher zielt; ein beschlagnahmtes Dokument (signiert »b« , also Baader , jedoch sorgfältig auf einer der IBM-Schreibmaschinen der Anwaltskanzlei geschrieben) gibt ausführliche Ratschläge und Anweisungen zur Geiselnahme , und in der Zwischenzeit, obgleich sie vor Hunger und Erschöpfung völlig am Ende sein müsste, klappert Frau Meinhof immer weiter auf ihrer Schreibmaschine; wenn auch nur sehr wenig von dem, was nach draußen dringt, noch verständlich ist:
    Ich sehe einen riesigen Drachen, der hat sieben Häupter und zehn Hörner, und auf seinen Häuptern sieben Kronen, und das Maul des Drachens speit Feuer und Rauch in so großen Mengen, dass Feuer und Rauch die ganze Erde zu verdunkeln scheinen.
    Herold lauscht, gegen seinen Willen fasziniert:
    Und ein Weib sehe ich, entflohen in die Wüste, wo sie einen Ort hat, bereitet von Gott; und sie war schwanger und schreit in Hungersnot und Kindsnöten zu ihrem Gott, er möge den Drachen zu Boden schleudern. Und der Drache öffnet seinen Rachen, doch Gott hört ihr Gebet, und der Drache wird auf die Erde geworfen. Verworfen wird er Krieg führen gegen alle ihres Samens und all jene, die Zeugnis gaben vom Gesetz des Zorn Gottes.
    Herold, jetzt entsetzt, schreibt und verlangt Auskunft über den Gesundheitszustand der Häftlinge. Die Antwort liest sich fast wie ein Sportbericht:
    ANDREAS BAADER , 1,76, hat sechsundzwanzig Kilo verloren
    (von 76 auf 50)
    GUDRUN ENSSLIN , 1,70, hat vierundzwanzig Kilo verloren
    (von 66 auf 42)
    JAN-CARL RASPE , 1,75, hat fünfundzwanzig Kilo verloren
    (von 73 auf 48)
    Über Ulrike Meinhof gibt es keine Angaben, auch nicht über Holger Meins. Will man die Polizei vielleicht verschonen von allzu viel deprimierender Statistik auf einmal?
    *
    Herold an Buback (mit Hauspost):
    Ich kann nur sehen, dass die Sache aufhören muss. Es bringt uns nichts, bis auf eine neue Welle der Massenhysterie, wenn wir die Gefangenen voneinander getrennt halten.
    Buback an Herold (mit Hauspost):
    Die Vorbereitungen für die Überführung nach Stuttgart-Stammheim sind im Großen und Ganzen abgeschlossen. Willst du diesen Prozess beschleunigen, musst du dich an den Verfassungsschutz wenden. Die ziehen es in die Länge.

Exkurs:
Über Krankheiten

    Krankheit breitet sich aus mit Hilfe zweier Hypothesen. Die erste lautet, dass sich jegliche Form der sozialen Abweichung als Krankheit betrachten lässt. So sollten Kriminelle, wenn das kriminelle Verhalten als Krankheit betrachtet werden kann, nicht verurteilt oder bestraft, sondern verstanden (wie ein Arzt versteht), behandelt, geheilt werden. Die zweite lautet, dass jede Krankheit psychologisch betrachtet werden kann. Krankheit wird als im Grunde psychologisches Ereignis interpretiert, und die Menschen werden ermuntert zu glauben, dass sie krank werden, weil sie es (unbewusst) wünschen, und dass sie sich durch die Mobilisierung des Willens selbst heilen können; dass sie wählen können, an dieser Krankheit nicht zu sterben. Diese zwei Hypothesen sind komplementär. Wie die erste die Schuld zu mindern scheint, so setzt die zweite sie wieder in ihre Rechte ein. Psychologische Krankheitstheorien sind machtvolle Instrumente, um die Schande auf die Kranken abzuwälzen. Patienten, die darüber belehrt werden, dass sie ihre Krankheit unwissentlich selbst verursacht haben, lässt man zugleich fühlen, dass sie sie verdient haben.
    SUSAN SONTAG : Krankheit als Metapher
    Der Mensch ist nichts als Materie wie alles. Der ganze Mensch. Körper und Bewusstsein ist »materielle« Materie, und was den Menschen ausmacht, was er ist, seine Freiheit ist, dass das Bewusstsein die Materie beherrscht – sich SELBST und die äußere Natur und vor allem: das eigene Sein.
    HOLGER MEINS :
    Brief an einen hungerstreikenden Mitgefangenen
    *
    (Kleiner Dialog über Krankheit und Macht)
    In den Rollen: HUNGERSTREIKENDER
GESELLSCHAFT / STAAT (der auch gastiert als:) HYDRA (die listige, kleine Apothekenschlange)
    STAAT : Die Gesellschaft ist per definitionem das »Gesunde«; auf alles, was deren Existenz bedroht, reagiert sie mit Abstoßung.
    HUNGERSTREIKENDER : Das stimmt nicht . Die Definition der Gesellschaft für das, was »gesund« und was »krank«