Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Theres

Theres

Titel: Theres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
Vom Netzwerk:
gebracht, als zu reproduzieren, zu reproduzieren bis zur Lähmung.
    Das hier muss ein Ende haben, Ulrike: es muss ein Ende haben mit deinem Recht auf Distanz – deinem blinden Glauben, dass du ganz allein die Bedingungen des revolutionären Kampfes diktieren kannst.
    Ich will meine Kinder treffen.
    Ich sehe jetzt klar, an dem Punkt könnte es beginnen.
    Du triffst niemanden.
    Was willst du? Das Gift weiterverbreiten?
    Ihr seid das Gift.
    Nein du , Ulrike – du bist das Messer im Rücken der RAF !
    *
    Wegen ihres »Verstoßes«, ihrer »Überheblichkeit«, ihres »Verrats an den Führungskadern der RAF « ( bitte ankreuzen ) wird Ulrike M drei Tage Ruhezeit verordnet. Nach weiteren »Aufwieglungsversuchen« wird die Strafe auf sieben Tage verschärft; später auf siebzehn. Während ihrer »Ruhezeit« darf sie keinen Besuch empfangen, nicht an den Betstunden teilnehmen und wird damit automatisch vom Info-System ausgeschlossen. (Es klopft an den Rohren, dieses und jenes wird durch die Ventilationsgitter im oberen Teil der Zellentüren geschrien: doch nichts davon ist für Ulrikes Ohren bestimmt.) Besuch findet sich indessen trotzdem ein. Die Besuche bestehen in erster Linie aus wachhabenden Froschmännern, Männern mit Werkzeugtaschen, die jeden Winkel derZelle durchsuchen. Grund: Sie glauben zu wissen, dass sie »gemeingefährliche Instrumente« versteckt. (Wer diesen giftdurchtränkten Informationsbrocken an die Gefängnisleitung gereicht hat, ist nicht schwer zu erraten.)
    Die Froschmänner müssen auch ein »Tor für Schuldgefühle« in die Zelle geöffnet haben, denn während sie rücklings auf der Matratze ihres Bettes liegt, während absolutes Licht zu absoluter Dunkelheit wechselt, spürt sie nicht den üblichen Hass hereinwallen, sondern eher ein verzehrendes Angstgefühl. Immer dasselbe: Die Waffen werden nach innen gerichtet. Was habe ICH dazu getan, dass es schließlich so geworden ist? Hätte ein anderer die Frage gestellt, hätte sie diese irritiert, fast wütend, als irrelevant abgetan (Angst zu verspüren ist bürgerlich). Durch welchen Riss in der Verteidigungswand ist dieses einzige kleine Wörtchen ich wieder hereingedrungen?
    *
    Sie liegt wach, in Licht oder Dunkelheit, und träumt. Und die Träume kommen zu ihr seltsam entstellt. In einem von ihnen sitzt sie mit Renates Zopf auf dem Schoß. Was undenkbar erscheinen muss: Renate hat ihr Haar stets jungenhaft kurzgeschnitten getragen. Der Zopf aber liegt dort auf ihrem Schoß, und sie streicht darüber, wie man über das warme Fell eines Tieres streicht. Und er ist lebendig, daran besteht kein Zweifel: er erwidert ihre Berührung, wie ein Tier es tut, reckt sich zu ihrer Hand hoch, als ob Wärme und Berührung selbstverständlich wären. (Ein »Lebensband«?)
    In einem anderen Traum steht sie erneut zusammen mit ihrem Vater in dem hohen Turmzimmer. Der Blick der Vierjährigen ist indes nicht länger gültig. Wenn der Vater zu ihr spricht, tut er es wie zu einer Ebenbürtigen, wenn auch mit leicht schulmeisterlichem, predigendem Tonfall. Diesmal zeigt er ihr »die Masken«. Allesamt hat er selbst geschnitzt, aus einem einzigen Stück , wie er es ausdrückt; und er zeigt, dass sich hinter einer Maske stets eine andere verbirgt. Das nämlich sei die Natur der Maske. Ihre Natur ist, niemand zu sein, denn sie besitzt keinen Inhalt , unklar, was er meint. Die Vorstellung hingegen ist destoanschaulicher. Wie ein Zauberkünstler, der aus seinem Hut Kaninchen um Kaninchen zieht, zeigt der Holzschnitzer, dass sich hinter jedem Riss, jeder Missbildung im Holz ein anderes Muster verbirgt, ein anderes Bild: jeden Augenblick wiedererkennbar. Und Ulrike denkt zwei Gedanken auf einmal; einerseits, dass jedes Gesicht das Meine ist; andererseits dass keins der Gesichter jemals mir gehören wird.
    Ein Paradox, das es wert ist, daraus aufzuwachen. Ulrike aber wacht nicht auf.
    Irgendwie erwartet sie, Andreas und Gudrun in diesen Träumen zu treffen. Doch keiner von ihnen zeigt sich. Es ist, als sei es genauso, wie sie gesagt hat: dass keiner von ihnen mehr wirklich ist. Oder dass sie es nie gewesen sind.
    Ein noch erschreckenderer Gedanke. Wo ist dann sie selbst gewesen, als all das geschah, was sie hier jetzt festkettet?
    *
    Die Antwort auf diese Frage erfolgt an einem Nachmittag spät im April, als sich »die Ruhezeit« zu einem Raum eigenen Rechts vertieft hat, fast gänzlich gedankenleer. Plötzlich wird das Schweigen von einem hartnäckigen Hämmern gegen die

Weitere Kostenlose Bücher