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Theres

Theres

Titel: Theres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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nicht sehen kann, nicht einmal dessen Anwesenheit kann sie spüren.
    Das Gefühl, aus einem Bild ausgeschlossen zu sein, an dem sie dennoch stark beteiligt ist, flößt ihr gewaltige Angst ein; es gibt aber auch Fälle, bei denen dieses »Eindringen von Räumen« Erleichterung bringt, fast Ruhe. Sie spürt deutlich den Geruch warmen, feuchten Asphalts, wie an jenen Tagen, als sie im Morgengrauen zur Wohnung in der Kufsteiner Straße zurückkehrte, nachdem sie die ganze Nacht am Schneidetisch verbracht hatte; damals wie jetzt: Müdigkeit, Erschöpfung, doch auch ein Gefühl gesteigerter Anwesenheit . So als müsste sie die Stadt nicht mehr mit jedem Schritt ausmessen, sondern als ob diese mit all ihrer quirligen, widerspruchsvollen Intensität in ihr zugegen ist: mit ihr geht, die leeren Straßen entlang. Eine Art Euphorie, die sich sofort ins Gegenteil verkehrt, und jetzt drängt sie sich vor in der Schlange an der Warenhauskasse: Sie erinnert sich, sie ist in Eile, will zu einem neuen Treffen mit Dutschke und den anderen von der Außerparlamentarischen Opposition, zugleich ist sie von Schuldgefühl geplagt ( muss etwas für die Kinder kaufen , sich freikaufen); eine empörte Stimme hinter ihr in der Schlange: Das also verstehen Sie unter Solidarität mit der Arbeiterklasse, Frau Meinhof , so deutlich und mit einer derartigen Verachtung, dass sie sich vor Schreck umdreht.
    Sie spürt, dass sie im Begriff ist, auch in ihrer engen Zelle das Orientierungsvermögen zu verlieren, und Hass steigt auf gegen all die Dinge , die mit ihr hierher verwiesen wurden: gegen Schreibtisch und Schreibtischstuhl, gegen Bett und Regale, gegen die braunmelierte Decke auf dem Bett, gegen den hässlichen Plastikvorhang vor der Toilettenkabine: weil sie überhaupt da stehen und etwas von ihr wollen: wenn auch nur, dass sie ein paar Zentimeter zur Seite weicht, um ihre Hüfte nicht an der Tischkante zu stoßen, auf den vier, fünf Quadratmetern, die ihr beschnittener Lebensraum sind.
    Vielleicht ist es das, was ihr die größte Angst einflößt. Wenn selbst tote Dinge Erbitterung und Hass wecken, verabscheut man nicht mehr sich selbst, sondern etwas anderes, viel Tieferes: den eigentlichen Lebensfaden, der mich mit den Bewegungen, die ich ausführe, verbindet,die Verwirklichung des Willenaktes im Raum (auch wenn es um etwas so Einfaches geht, wie ein Glas Wasser zu holen); und dann mit dieser Einsicht einschlafen zu müssen und zu spüren oder sich zu erinnern, es verspürt zu haben: die Abwesenheit auch des eigenen Körpers.
    *
    Zeichen setzen gegen: »die Verrätertypen«.
    Sie hat eine vage Erinnerung an die übelriechenden Toiletten der Freien Universität; der Parfümhauch anderer Frauen, aber auch die Spiegel über den Waschbecken, vollgeschmiert mit politischen Parolen oder nur allgemein obszönen Ausdrücken. Beug dich vor, um die Hände zu waschen, und begegne deinem Gesicht im Spiegel, und es gibt stets einen bestimmten Punkt, an dem sich die Schlingenornamente der Buchstaben auflösen, um stattdessen als Formkontur deines eigenen Bilds zu erscheinen. Das Gesicht wird überschattet, entstellt; die Figur übernimmt, und was der Bildspiegel wiedergibt, ist dein Gesicht und auch wieder nicht. Doch zugleich wirklicher als dein Gesicht, denn dieses Bild bleibt im Glas haften, wenn du selbst dich abwendest.
    So ist die Wirkung von Ensslins Worten, wenn sie sich im Gang oder nach einem raschen Sitzungsabbruch begegnen: Es ist erfreulich zu sehen, dass es dir beim Schlechtfühlen so gut geht, Ulrike ; oder: Jemand verpestet die Luft für uns hier drinnen, kann nicht einer lüften? Schuldprojektionen; die Worte bleiben hängen, leuchtend wie Inschriften, auch lange nachdem der Gegenstand, dem die Projektionen galten, sich vor der Umwelt verschlossen hat oder eilig aufgestanden und weggegangen ist.
    Geht im Traum, langsam, vorsichtig, wie an der Lehmkante eines sumpfigen, rasch verlandenden Meeres; denkt (das ist kein Entschluss, nicht einmal ein bewusster Willensakt, nur ein Vorsatz, um daran festzuhalten und nicht endgültig den Halt zu verlieren): Muss vortreten und Zeugnis ablegen, ein letztes Mal, nicht meinet- oder deretwegen, sondern weil all das sonst ohne jeden Sinn ist …

Probe vor dem
großen Schweigen

    Es folgen ein paar Tage Ende April und im Mai 1976, als das innere Schweigen nach außen gekehrt wird. Die Drucker des Landes streiken; Zeitungen erscheinen nicht mehr. Zum ersten Mal seit Jahren muss Herold mit leeren Händen

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