Theres
Grenze akzeptieren und versuchen, über andere Wege weiterzugelangen.
Herr Froschmann, Sie haben einen Versuch unternommen. In gewisser Weise respektiere ich Sie dafür. Sie suchen eine Grenze, ich eine andere. Äußerst wenig spricht dafür, dass diese jemals identisch sein werden. Ich befürchte, dass Sie, wie eines Tages auch ich, sterben werden, ohne Ihre eigentlichen Ambitionen und Ziele erfüllt zu sehen. Sich darauf vorzubereiten ist vielleicht eine höhere Tugend als die, nach der Sie Ihren Worten nach streben wollen.
Interregnum
Ulrike geht durch die Gänge der Zellenebene sieben. Wie eine Schlafwandlerin? Eher genau umgekehrt: als einzig Wache in einem Pulk von Schlafenden.
Die Gefangenen, ausgestreckt auf Matratzen an den Wänden des Ganges. Andreas auf der Matratze ganz vorn, die Hand auf den Boden gekippt (Licht fällt auf das starke Adernnetz am Unterarm); Jan, wie immer, ganz hinten, ein Radio oder Tonbandgerät irgendwo unter dem Körper versteckt (eine heisere Stimme zieht lange, dünne Melodiefäden aus einem Song, den sie vage wiedererkennt: Mary, she’s my friend, yes I believe I’ll go see her again … ). Die Gefangenen im Gefängnishof; darüber: ein Stück blassblauer Himmel, zerschnitten von Stahldrahtgitter; die Kälte streng für diese späte Jahreszeit, Frostfackeln aus den Mündern der Gefangenen. Ensslin mit dem nunmehr gewohnten Blicklächeln, irgendwo in Höhe von Ulrikes Taille streicht es vorbei und besagt, ich weiß mehr , ich sehe mehr (gemeint: als was du dir in deiner wildesten Phantasie vorstellen kannst). Die Gefangenen in ihren Zellen. Andreas sitzt bei offener Tür auf der Bettkante und blättert in Micky-Maus-Heften, mit der rechten Hand fährt er sich zerstreut über den Schritt hoch und runter, erneut Musik ( Ev’rybody knows that baby’s got new clothes, but lately I see her ribbons and her bows have fallen from her curls …), die von einer lauteren Stimme unterbrochen wird:
Introducing BLIND SPOT , the program for all of you with faulty characters. Wouldn’t like a mismatch, would you …?
Eilig wird sie abgewürgt. Schon rasseln die Schließer mit ihren Stahlwerkzeugen an den Türen der Abteilung, und Ulrike wird zu sich hineinversetzt, zum Eigenen und den eigenen Leuten; und immer ist esdasselbe: Die Tage fließen ineinander, angefüllt mit Aktivitäten, Gesprächen, Diskussionen, Beratungen, Anwaltsbesuchen, Auswertungen, und wenn es zuweilen den Anschein hat, als würde all das eine Dichte und Struktur annehmen, die jener der Wirklichkeit entspricht, verblasst es ebenso rasch zum Bild (als hätte all das, dessen Zeuge sie ist, längst stattgefunden oder als ob es bald stattfinden wird, weshalb es in dem nun herrschenden »Heute« keinerlei Verankerung findet). Für Ulrike ist die Abtrennung bereits vollzogen, und das, was es früher gab und was sich mit »Erschöpfung« oder »Überdruss« bezeichnen ließ, ist nun zum fast physischen Gefühl der Gleichgültigkeit geworden, bei dem die Aufmerksamkeit nur in Anspruch genommen wird, wenn sie dazu gezwungen ist; ansonsten, nichts: nicht einmal mehr Warten.
*
Diese ganze Welt wäre vollkommen stumm, gäbe es da nicht das Eindringen all dieser fremden Räume in den ihren.
Es ist überhaupt seltsam: dass Wände so hart und unnachgiebig und zugleich so dünn sein können, und Vergangenes so weit weg sein kann, dass es sich kaum noch zu einer Erinnerung formt, und zugleich so stark und zudringlich, dass es ihr ganzes Selbst in Anspruch nimmt, sie formt.
Als sie eines Abends den Blick von der Schreibmaschine hebt (ein weiterer Brief an Hanna, routinemäßige Formalien: längst leergeschriebene Parolen wie die Bereitschaft im Zweifrontenkrieg zu stärken und vorhandene Kaderbildungen zu unterstützen ), steht Klaus mitten im Raum. Es ist, als befände sie sich im Wohnzimmer des Hauses in Blankenese, so nahe, dass sie meint, den weichen Gegendruck des Teppichs unter den nackten Fußsohlen zu spüren, den Geruch von Klaus’ Zigaretten. Klaus selbst hält ein Whiskyglas in der Hand, gestikuliert damit, wie man es tut, wenn das Glas nur dazu dient, die Wirkung der gesprochenen Worte zu verstärken, und gegen ihren Willen wird sie mitgelockt, sagt (wie sie es damals gesagt hätte, die Stimme bemüht ironisch): Ich habe dein Buch gelesen, Klaus , aber Klaus ist für ihre Stimme nicht empfänglich, er redet und gestikuliert einfach weiter,jetzt noch eindringlicher: doch an einen anderen im Raum gerichtet, den sie
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