Throne of Glass – Die Erwählte
Eigentlich sollte sie schlafen oder es wenigstens versuchen. Fleetfoot hatte in ihrem Schoß gedöst und gähnte jetzt mit weit aufgerissenem Maul. Celaena kraulte sie hinter den Ohren und fuhr mit der Hand über die Buchseite. Wyrdzeichen starrten ihr entgegen, die verworrenen Linien und Winkel bildeten eine Sprache, die sie nicht entziffern konnte. Wie lange mochte Nehemia gebraucht haben, um sie zu lernen? Und, fragte sie sich finster, warum funktionierte ihre Macht noch immer, obwohl die Magie an sich verschwunden war?
Seit dem Ball letzte Nacht hatte sie Nehemia nicht gesehen. Und sie hatte weder gewagt, sie aufzusuchen, noch, Chaol zu sagen, was sie erfahren hatte. Die Prinzessin hatte sie getäuscht. Ihre Sprachkenntnisse waren weitaus besser, als sie zugab, und sie wusste auch mehr über die Wyrdzeichen – aber dafür konnte es alle möglichen Gründe geben. Es war ein Fehler gewesen, letzte Nacht auf den Ball zu gehen, ein Fehler, anzunehmen, dass Nehemia zu so furchtbaren Dingen fähig war. Nehemia war eine von den Guten. Sie hätte sie niemals angegriffen, schließlich waren sie Freundinnen gewesen. Gewesen . Celaena schluckte den Kloß im Hals hinunter und blätterte die Seite um. Ihr blieb das Herz stehen.
Da waren endlich die Symbole, die sie bei den Leichen entdeckt hatte. Und am Rand stand die Erklärung, vor Jahrhunderten von jemandem notiert: Opfergabe an den Ridderak: Bringe rings um das Opfer mit seinem Blut die entsprechenden Zeichen an. Sobald die Kreatur beschworen wurde, bewirken diese Zeichen den Austausch: Für das Fleisch der Opfergabe wird dir der Ridderak dessen Kraft verleihen .
Celaena kämpfte gegen das Zittern in ihren Händen an, während sie die restlichen Seiten auf der Suche nach irgendeiner Information über die Zeichen unter ihrem Bett überflog. Da das Buch nichts ergab, kehrte sie zum Beschwörungsritual zurück. Ridderak, war das der Name der Kreatur? Was war das? Woher rief man ihn, wenn nicht …
Die Wyrdtore. Müde presste sie die Handballen auf die Augen. Jemand benutzte die Wyrdzeichen, um ein Portal zu öffnen und diese Kreatur zu beschwören. Das war eigentlich vollkommen unmöglich, es gab keine Magie mehr, aber den Texten zufolge existierten die Wyrdzeichen unabhängig von Magie. Und wenn diese Kräfte wirklich noch funktionierten? Aber … ausgerechnet Nehemia? Wie konnte ihre Freundin so etwas tun? Wozu brauchte sie die Kraft der Champions? Und wie gelang es ihr, das alles so gut zu verbergen?
Natürlich konnte Nehemia einfach eine gute Schauspielerin sein. Vielleicht hatte Celaena sich einfach so sehr eine Freundin gewünscht – jemanden, der anders war, eine Außenseiterin wie sie selbst. Vielleicht hatte sie diese Freundin allzu verzweifelt gesucht und nur gesehen, was sie sehen wollte. Celaena holte tief Luft. Nehemia liebte Eyllwe, das stimmte natürlich. Und Celaena wusste, dass sie alles tun würde, um ihr Land zu schützen. Es sei denn …
Das Blut gefror in Celaenas Adern. Es sei denn, Nehemia hatte einen sehr viel größeren Plan. Vielleicht ging es ihr nicht nur darum, dass der König Eyllwe verschonte. Vielleicht wollte sie, was nurwenige und nur hinter vorgehaltener Hand auszusprechen wagten: Rebellion. Und keine Rebellion, wie sie jetzt schon im Gange war – kleine Trupps von Kämpfern, die sich in der Wildnis versteckten –, sondern eine Rebellion, bei der sich ganze Königreiche gegen Adarlan erhoben – so wie es von Anfang an hätte sein müssen.
Aber was hatte es dann für einen Sinn, die Champions zu töten? Warum nahm sich Nehemia nicht die Königsfamilie vor? Der Ball wäre ideal dafür gewesen. Warum benutzte sie Wyrdzeichen? Celaena kannte Nehemias Gemächer. Nichts hatte auf eine dämonische Kreatur hingedeutet, die dort lauerte, und nirgendwo im Schloss konnte sie …
Celaena blickte von ihrem Buch auf. Der Gobelin blähte sich in einem gespenstischen Luftzug, obwohl er von der schweren Kommode gegen die Wand gedrückt wurde. Nur in den endlosen, vergessenen Kammern und Tunneln unter dem Schloss konnte man eine solche Kreatur unbemerkt heraufbeschwören oder verstecken, nirgendwo sonst.
»Nein«, sagte sie und stand so abrupt auf, dass ihr Stuhl umkippte und Fleetfoot schnell zur Seite springen musste. Nein, das konnte nicht sein. Es war doch Nehemia. Und … und …
Ächzend schob Celaena die Kommode zur Seite und rollte den Gobelin seitlich auf. Genau wie vor zwei Monaten wehte kalte, feuchte Luft durch die Ritzen,
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