Tiamat-Zyklus 3 - Die Sommerkönigin 2 - Die Abkehr der Welt
mit ihm verfahren kann.« Noch immer merkte sie, wie Jerusha sie skeptisch musterte.
Vhanus Stirnrunzeln vertiefte sich, doch in seinem Blick las sie Verständnis. Dann ließ er die Hand mit der Phiole sinken, die er über den Abgrund gehalten hatte. »Aber ich brauche ihn«, beharrte er, »und ich brauche ihn lebend. Er ist sehr wichtig für uns.« Er brach ab. »Seine Festnahme bedeutet der Hegemonie sehr viel.«
Damit meinte er in Wahrheit die Survey-Loge.
Sie spürte den gnadenlosen Zugriff, die versteckte Faust dieses Geheimbunds, dem er loyaler diente als seiner Regierung.
Im Geist sah sie Reede, der eine Schachfigur der Bruderschaft gewesen war, in den Besitz der Goldenen Mitte übergehen; natürlich wollten sie ihn in ihre Gewalt bringen, seinen scharfen, gestohlenen Verstand ausbeuten, wie es ihre Rivalen bereits getan hatten.
»Bis zum Eintreffen des Tribunals können Sie ihn behalten, Herrin.« Vhanus Miene änderte sich leicht. »Bestrafen Sie ihn, wie Sie wollen, aber sorgen Sie dafür, daß er am Leben bleibt ...«
Barbaren,
verriet sein verächtlicher Blick. »Genügt Ihnen das?« Nun streckte er ihr die Hand mit der Phiole entgegen, blieb jedoch vorsichtshalber immer noch außer ihrer Reichweite. »Vergessen Sie nur nie, daß wir jederzeit hier eindringen und ihn herausholen können, wenn es uns paßt. Bis jetzt habe ich mich noch bemüht, Ihre Souveränität zu respektieren – in dem Maße, wie Sie mich ließen. Aber ich erwarte, daß man mich demnächst zum Obersten Richter ernennt.« Er lächelte gekünstelt.
Sie verschränkte die Arme und umklammerte fest ih. re Ellbogen. »Da Sie soviel Rücksicht auf unsere Traditionen nehmen, wäre es undankbar, Ihr Angebot auszuschlagen«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Ich behalte ihn hier, bis es einen neuen Obersten Richter gibt. Danach ...« Sie zuckte die Achseln.
Ein Anflug von Nervosität streifte ihn, doch er schüttelte das ungute Gefühl ab. »Aktivieren Sie die Energiequelle der Stadt, Herrin; dann bekommen Sie das.« Er deutete auf das Wasser des Todes.
Sie zögerte, er stand ihr zu nahe am Rand der Grube. Entschlossen schüttelte sie den Kopf. »Zuerst geben Sie mir die Phiole.« Sie streckte die Hand aus und merkte sein Widerstreben. »Geben Sie mir die Droge, oder die Stadt bleibt dunkel.« Sie ballte die Hand zur Faust.
Seine Finger krallten sich um die Phiole; seine Augen glänzten schwarz wie Obsidian. Unerschrocken, unnachgiebig hielt sie seinem Blick stand.
Er schaute zur Grube hin; nach einem endlos langen Augenblick sah er wieder Mond an und nickte. Doch es war nicht nur eine Kapitulation, seine Miene drückte noch etwas anderes, viel Beunruhigenderes aus. »Also gut«, murmelte er. »Aber ich möchte zuschauen; ich will sehen, wie Sie es machen.«
Überrascht und unsicher deutete sie ein Nicken an. Als sie ihm dann abermals die Hand hinhielt, gab er ihr die Phiole. Sie umschloß sie mit den Fingern und kehrte Vhanu den Rücken zu; dann betrat sie die Brücke.
Ohne zu zaudern schritt sie aus, Kummer und Zweifel verdrängend. Als sie sich wieder zu Vhanu umdrehte, über einem Abgrund balancierend, der für ihn nichts als tiefste Schwärze war, ihr hingegen hell erschien, las sie in seinem Gesicht Mißtrauen und kaum verhohlene Verachtung ... eine düstere, quälende Faszination. Sie schloß die Augen und murmelte:
»Eingabe. «
Obwohl die Frage nur in ihren Gedanken laut wurde, rüstete sich das Sibyllennetz zu einer Antwort, wie wenn es nur darauf lauerte, stimuliert zu werden. Einen Moment lang sah sie die Unendlichkeit wogen wie ein grenzenloses Meer ...
Taumelnd, nach Luft schnappend, stürzte sie in die Gegenwart zurück. Sie spähte in die Grube hinab; drunten in der Tiefe pflanzte sich ein Licht fort – echtes Licht, nicht die heimliche Strahlung, in der sie sich bewegt hatte. Wie eine hungrige Flamme züngelte die Energiewelle in einer Spirale nach oben, die Maschinerie zum Leben erweckend; schließlich erreichte sie den Rand, schwappte über und durchflutete die Halle mit gleißendem Licht.
Mond ging wieder zu den beiden Leuten, die in dem künstlichen Tag regungslos auf sie warteten. »Ich habe meinen Teil der Abmachung erfüllt, Kommandant Vhanu.«
Als sie näher kam, prallte er zurück; aus immer noch geweiteten Pupillen starrte er sie an. Ein Schauder durchlief ihn.
Jetzt las sie Zweifel in seinen Augen – und Angst.
Wie hat sie das gemacht?
fragten seine Blicke.
Wie?
Sie gab ihm keine Antwort und begegnete
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