Tief im Herzen: Roman (German Edition)
diesen Hausbesuch hatte sie ein schlichtes, dem Anlaß angemessenes Kostüm in Marineblau und eine weiße Bluse ausgewählt. Was sie darunter trug, ging nur sie etwas an. Ihre Vorliebe für Seide spannte ihren stets knappen Etat aufs äußerste an, aber schließlich wollte sie ja auch leben.
Ihr langes, gelocktes Haar hatte sie in einem ordentlichen Nackenknoten gebändigt. Sie fand, daß sie so ein wenig reifer und würdevoller aussah. Wenn sie ihr Haar offen trug, wurde sie zu oft als heiße Nummer abgeschrieben und die ernsthafte Sozialarbeiterin in ihr verkannt.
Ihre Haut war blaßgolden, dank ihrer italienischen Vorfahren. Hinzu kamen große, mandelförmige Augen. Sie hatte einen großen Mund, mit einer vollen Unterlippe. Ihre Wangenknochen waren stark ausgeprägt, ihre Nase lang und gerade. Während der Arbeitszeit schminkte sie sich nur leicht, da sie nicht die falsche Art von Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte. Sie war achtundzwanzig Jahre alt, hing an ihrer Arbeit und war zufrieden mit ihrem Leben als Single, froh, daß sie sich in dieser hübschen Stadt hatte niederlassen können. Von der Großstadt hatte sie genug.
Als sie zwischen langgestreckten, flachen Getreidefeldern hindurchfuhr und der Wind, der schwach nach dem Wasser roch, zum Fenster hereinströmte, träumte sie davon, eines Tages an einen solchen Ort zu ziehen. Ihr gefielen Landstraßen, auf denen Traktoren führen, sowie der Ausblick auf die Bucht mit den Booten.
Sie würde sparen müssen, aber eines Tages hoffte sie, sich ein kleines Haus außerhalb der Stadt kaufen zu können. Das Pendeln würde ihr nicht so schwerfallen, schließlich war Fahren eines ihrer liebsten Freizeitvergnügen.
Der CD-Player schaltete um, von der Königin des Soul zu Beethoven. Anna begann die ›Ode an die Freude‹ mitzusummen.
Sie freute sich, daß man ihr den Fall Quinn zugewiesen hatte. Er war hochinteressant. Sie wünschte nur, sie hätte Raymond und Stella Quinn gekannt. Es mußten ganz besondere Menschen gewesen sein, die drei halbwüchsige, problematische Jungen adoptiert hatten und mit ihnen zurechtgekommen waren. Aber sie waren tot, und jetzt mußte sie sich um Seth DeLauter kümmern. Offenbar kam das Adoptionsverfahren nicht voran. Drei alleinstehende Männer – einer lebte in Baltimore, einer in St. Chris, und der dritte, wohin es ihn gerade trieb. Nun ja, überlegte Anna, das schien nicht die allerbeste Umgebung für das Kind zu sein. Und es war zweifelhaft, ob ihnen wirklich daran lag, die Vormundschaft für den Jungen zu bekommen.
Somit würde Seth DeLauter wohl wieder der staatlichen Fürsorge übergeben werden. Anna hatte die Absicht, alles für ihn zu tun.
Als sie sich dem Haus näherte, fuhr sie langsamer. Sie stellte das Radio leiser und überprüfte dann im Rückspiegel ihr Aussehen. Dann schaltete sie in den ersten Gang zurück, fuhr die letzten Meter in gemächlichem Tempo und bog langsam in die Auffahrt ein.
Ihr gefiel das hübsche Haus in der herrlichen Umgebung, die so ruhig friedlich war. Es hätte einen frischen Anstrich vertragen können, dachte sie, und der Hof müßte instandgesetzt werden, aber der leichte Eindruck von Verfall trug nur zu seinem Charme bei.
Ein Junge wäre hier glücklich, dachte sie. Jeder wäre hier glücklich. Wie schade, daß er hier nicht bleiben konnte. Sie seufzte auf, da sie nur zu gut wußte, daß das
Schicksal seine Tücken hatte. Dann nahm sie ihre Aktenmappe und stieg aus.
Sie zupfte ihre Jacke zurecht, damit sie ordentlich saß. Es waren ziemlich weite Klamotten, die sie trug, denn sie wollte ihre Figur verbergen, um nicht für Ablenkung zu sorgen. Dann ging sie auf die Eingangstür zu und bemerkte dabei, daß die Beete mit Immergrün zu beiden Seiten der Stufen zu blühen begannen. Sie mußte unbedingt mehr über Pflanzen lernen und sie beschloß, sich ein paar Gartenbücher aus der Bibliothek zu holen.
Als Anna das Hämmern hörte, zögerte sie kurz, dann überquerte sie in ihren praktischen flachen Schuhen den Rasen und ging zur Rückseite des Hauses.
Er kniete auf dem Boden, als sie ihn entdeckte. Schwarzes T-Shirt, das in einer engen, verwaschenen Jeans steckte. Aus rein weiblicher Perspektive war es unmöglich, anders als mit Wohlgefallen zu reagieren. Seine festen Muskeln wölbten sich, als er einen Nagel ins Holz schlug, mit so viel Wut, dachte Anna, so viel Kraft, daß die Luft vibrierte von den Schwingungen, die er aussandte.
Phillip Quinn, der Werbefachmann? Höchst
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