Tief im Hochwald - Kriminalroman
Wiedersehensfeier noch einmal kurz aufleben zu lassen.
Er zog sich schnell den engen khakifarbenen Baumwollschlafanzug aus, den ihm Marie vor Urzeiten zu Weihnachten geschenkt hatte und der nicht kaputtzugehen schien. Das Ding hatte seiner Farbe entsprechend die Widerstandskraft alter Wüstenkrieger, nur ein Gefechtsfeuer im Bett vermochte er nicht zu entfachen. Warum hatte er das scheußliche Ding in der Nacht überhaupt noch angezogen? Er konnte sich nur daran erinnern, dass Marion überraschend mit zwei Gläsern Sekt ins Schlafzimmer gekommen war, nachdem sie sich eigentlich schon in den Schlaf verabschiedet hatten. Aber an das, was dann folgte, konnte er sich beim besten Willen nicht mehr erinnern.
Der leichte Seidenkimono, den er sich während einer Geschäftsreise in Japan geleistet hatte, wirkte hingegen vergleichsweise verführerisch. Doch gerade deshalb wollte er den Umweg über das Gästezimmer einschlagen, bevor er seinen schon groß angekündigten »Café au Lait de Thomé« zubereiten würde. Er musste kurz den Kopf über sich selbst schütteln: Was für einen Mist hatte er gestern wohl sonst noch von sich gegeben?
Die Ruhe in dem Haus hatte ihm schon immer diese Sicherheit gegeben, wenigstens hier in seinen vier Wänden unangreifbar zu sein. Thomas war stolz darauf, jedes Geräusch sofort seinem Verursacher zuordnen zu können. Genauso wie er schon lange vor dem Rest seiner Familie einen fremden Laut registrieren konnte. Er hatte schon häufig die erstauntesten Gesichter geerntet, wenn er die damit verbundenen Ereignisse als brandheiße Neuigkeiten um und im Haus präsentiert hatte. An diesem kühlen Herbstmorgen aber war alles ruhig. Die Tür zum Gästezimmer im Parterre war angelehnt.
Thomas schob sie mit den Fingerspitzen auf. Innerlich hatte er sich bereits auf den verschlafen-lasziven Blick von Marion eingestellt, der ihn schon vor zwanzig Jahren bei ihrem gemeinsamen Zelturlaub in der Bretagne aufs Äußerste entzückt hatte. Und der sich zwangsläufig einstellen musste, wenn das sanfte Knarren der alten Holztür den Weckdienst erfüllt hatte. Thomas versuchte sein bewährtes smartes Lächeln noch ein wenig zu perfektionieren, als er neckisch um die Tür herum auf das Gästebett blickte.
Doch sein Lächeln erstarrte und mutierte dann zu einem unendlichen lautlosen Schrei, der seinen Kopf fast platzen ließ. Auf dem Bett fand er nicht die erwartete personifizierte Lebenslust. Auf dem Bett lag eine Frau: fremd, nackt und augenscheinlich leblos. Ihre Augen waren weit aufgerissen und starr. Die karottenroten, kurz geschnittenen Haare standen in alle Richtungen ab und stellten ein Pendant zu den in der gleichen Farbe lackierten langen Fingernägeln der gespreizten Hände dar, die schlaff auf dem zerwühlten Bettlaken lagen. Die gazellenartig langen Beine bildeten mit der unteren Bettkante ein nahezu gleichschenkliges Dreieck. In dessen spitzem Winkel vermochten die roten Schamhaare nicht alles zu verdecken, was vielen Männern und vielleicht auch Frauen vor nicht allzu langer Zeit noch sehr verlockend erschienen sein musste. Doch das war Vergangenheit. Realität war ein Anblick, der in Thomas gleichzeitig ein Frösteln, Schweißausbrüche und ein nicht zu beherrschendes Gefühl der Übelkeit verursachte.
Der Aufenthalt auf der Toilette war lang und intensiv. So wie sein Blick in den asymmetrischen Kristallspiegel mit dem passend zu den Schieferfliesen anthrazit gebeizten Holzrahmen. Es dauerte eine ganze Weile, bis wieder Bewegung in seinen Körper kam. Langsam und an jedem festen oder auch losen Gegenstand Halt suchend schleppte er sich in sein Arbeitszimmer. Auch hier, an der Stätte seiner genialen Einfälle, kam sein Gehirn nur langsam in Fahrt. Inmitten des gedanklichen Chaos fanden schließlich drei Fragen und eine sich stetig wiederholende Antwort den Weg in sein Bewusstsein: Wer ist das? Was, verdammt noch mal, macht sie in meinem Bett? Polizei? –Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße!
*
Der Kriminalbeamte Christian Buhle, der offenbar das Sagen über diese stumme Armee weiß uniformierter Ameisen hatte, stand vollkommen ruhig in der gegenüberliegenden Ecke des Wohnzimmers. Sein Blick schien Thomas nur gelegentlich, fast nebenbei zu streifen. Viel mehr Beachtung fand dagegen die Einrichtung des Wohnzimmers.
Lange schaute er die schier endlosen Reihen des Bücherregals entlang, als ob er später in seinem polizeiinternen Bericht aus dem Gedächtnis eine Aufstellung der dort
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