Tief im Hochwald - Kriminalroman
erzählen, doch konnte er es denn verschweigen?
»Ich hatte Besuch …«
Drei Worte, und Thomas schnürte es sofort wieder die Kehle zu, als ob zwei kräftige Hände die Funktion seiner Stimmbänder außer Kraft setzen würden.
Buhle zeigte erstmals Anzeichen von Ungeduld. »Nun, den haben Sie jetzt immer noch. Doch werden Sie mich kaum so schnell loswerden wie Ihren Damenbesuch.«
»Nein, Sie denken natürlich, ich hätte …« Wieder kam Thomas nicht weiter.
»Wenn Sie wollen, dass ich aufhöre zu denken, Herr Steyn, versuchen Sie es doch ganz einfach mal mit Erzählen. Sie hatten Besuch, und es war sicher nicht die alte Dame, oder …?« Buhles Schweigen hatte Thomas mehr beeindruckt als dessen Worte. Der etwas platte Spruch hätte auch von ihm selbst stammen können. Oder hatte er den Dürrenmatt, der ungelesen seit der Schulzeit am anderen Ende der Regalwand verharrte, auch registriert?
Thomas ahnte, dass er selbst nur etwas erfahren würde, wenn auch er etwas preisgab. So klar konnte er wieder denken. Im alten Anbau ging gerade die Tür. Mittlerweile dürften sie schon das ganze Haus in kriminalistisch säuberlich getrennte Einzelteile zerlegt haben. Er schaute auf seine Armbanduhr. Die gute Junghans, die er vor Jahren heimlich von seiner Mutter geschenkt bekommen hatte, schien irgendwie und irgendwann einen Schlag abgekriegt zu haben. Jedenfalls stand sie genauso beharrlich wie Buhle in seinem Türrahmen. Ein Stück des Uhrglases war herausgebrochen.
»Wie lange sind Sie eigentlich schon im Haus?«
»Nun, ich will mit gutem Beispiel vorangehen, Herr Steyn, und Ihnen mal ganz beispielhaft eine Frage beantworten.« Buhle sagte dies in einem merkwürdig ernsten Ton, der ganz im Gegensatz zu den vorangegangenen ironischen Bemerkungen stand.
»Sie riefen um zwölf Uhr einundfünfzig den Polizeinotruf an. Da war die Frau übrigens schon etliche Stunden tot. Wir haben sieben Minuten gebraucht, um Ihre richtige Adresse herauszufinden. Die von Ihnen durchgegebene Steinstraße würde Ihnen zwar alle Ehre zuteil werden lassen, nur gibt es sie in Trier leider nicht, und die Freiherr-vom-Stein-Straße liegt in einem anderen Stadtteil. Weitere acht Minuten später haben Sie uns dann die Tür geöffnet.«
Der vollkommen in Schwarz gekleidete Kommissar benetzte mit seiner Zunge kurz die Lippen und fuhr ohne eine weitere Bewegung fort: »Der Notarzt, den wir für Ihren Besuch leider vergeblich gerufen hatten, wollte wohl doch nicht ganz umsonst gekommen sein und hat Ihnen ein Beruhigungsmittel gegeben. Das hat uns beide gut anderthalb Stunden gekostet. Da aus Ihnen auch vorher kein Wort herauszukriegen war, ist das zu verschmerzen. Gehen wir davon aus, dass die Uhr dort oben auf dem Regal genau geht, dann beehren Sie uns hier mittlerweile vierundzwanzig Minuten lang mit Ihrem wortkargen Schauspiel, seit Sie wieder einigermaßen ansprechbar sind. Wird Ihnen das nicht auch langsam lästig?«
Thomas konnte die Diskrepanz zwischen dem nüchternen, fast freundlichen Tonfall und der Überheblichkeit der Worte nicht einordnen.
»Okay, ich versuche mich zu konzentrieren.« Er sah den Kommissar kurz an, aber die in dieser Ankündigung versteckte Ausrede beeindruckte ihn offensichtlich nicht. »Also, wie ich bereits sagte, hatte ich Besuch. Eine alte Schulfreundin aus Ulm: Marion Schroeder oder Spiegelrodt, wie sie heute heißt. Sie wollte mich mal wieder besuchen, nachdem wir uns lange aus den Augen verloren hatten. Wir wollten das freie Wochenende nutzen, ich meine, wo die Kinder mal weg sind, wollten wir in Ruhe …« Thomas konnte Buhle unmöglich sagen, dass er mit dem Treffen von vornherein nicht nur die Absicht verbunden hatte, in gemeinsamen Erinnerungen zu schwelgen. »… in Ruhe alte Zeiten aufwärmen.«
»Wie lange kennen Sie Frau Spiegelrodt?«
»Ich kenne Marion seit der achten Klasse. Sie war genau wie ich neu im Internat und hatte keine Freunde. Ich selbst stand als Adelssprössling bei meinen Altersgenossen nicht so hoch im Kurs. Und sie, nun, auch sie hatte Anpassungsschwierigkeiten. Wir wurden von den anderen entweder geschnitten oder offen angefeindet. Um uns behaupten zu können, taten wir uns zu einer Art Zweckgemeinschaft zusammen: Ich übernahm die Organisation, sie die Durchführung. Das war zwar nicht immer das perfekte Rollenverhältnis, aber dafür sehr effektiv. Es dauerte nicht lange, bis wir die etablierten Grüppchen aufgemischt hatten und Marion das einzige Mädchen im Jahrgang war, das von
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