0176 - Der Pestvogel
Es dämmerte draußen, als Manfred Mock, der Küster, die letzten Opferstöcke im Stephansdom leerte. Mock war ein durchschnittlich großer Mann mit Halbglatze, rundem Gesicht, Tränensäcken und dicken schwarzen Augenbrauen. Er liebte die Arbeit in der Kirche, denn nirgendwo fühlte er sich Gott näher als in diesem weltbekannten Wahrzeichen Wiens.
Täglich strömten Hunderte von Touristen zum Kirchentor herein.
Nicht alle benahmen sich an dieser geweihten Stätte gesittet, doch wenn Mock in der Nähe war, sorgte er für Ruhe und Anstand.
Mit gestrengem Blick machte er dann die Leute darauf aufmerksam, daß sie sich in einer Kirche befänden und sich darin entsprechend zu benehmen hätten. Solche Rügen vermochte er in fünf Sprachen auszuteilen.
Soeben nahm er sich den letzten Opferstock vor. »Die Menschen werden immer knausriger«, brummte er und blickte zu einem Heiligen hin, der in demütiger Haltung auf einem alten Sandsteinsockel stand. »Für weite Reisen geben sie ihr Geld aus. Aber für die Erhaltung eines so prachtvollen Gotteshauses kratzen sie bloß ihr Kleingeld zusammen. Lächerlich ist das. Empörend. Der Himmel ist ihnen nichts wert.«
Ab und zu fielen dem Küster Banknoten in fremder Währung in die Hände, dann nickte er zustimmend und meinte, es gebe doch auch noch anständige Menschen auf der Welt, die wüßten, was sich gehört.
Mit dem Opfergeld verließ er den Dom. Vor dem goldgeschmückten Altar beugte er die Knie und bekreuzigte sich.
Wenig später betrat er einen kleinen Raum.
»Du scheinst mit der Opferwilligkeit der Gläubigen nicht sehr zufrieden zu sein«, sagte der Priester, der an einem großen Tisch saß und in einem dicken alten Buch las.
»Manchmal glaube ich, ich muß mich für meine Mitmenschen vor Gott schämen, Hochwürden«, sagte Manfred Mock. »Sie fahren in großen Automobilen, die eine Menge Sprit fressen, leisten sich trotz ständig steigender Benzinpreise Fahrten nach Venedig, Budapest oder Prag, aber an unseren Opferstöcken gehen sie mit Scheuklappen vorbei. Das ist nicht richtig. Sie sollten die Gläubigen bei Ihrer Predigt darauf hinweisen, daß die Opferstöcke nicht bloß zur Dekoration aufgestellt sind.«
Der Priester schmunzelte. »Ich wäre dir dankbar, wenn du mich auch weiterhin die Themen für meine Predigten selbst aussuchen ließest, mein Sohn.«
»Entschuldigen Sie, Hochwürden. Aber wenn man empört ist…«
»Schon gut. Ich weiß, daß du eine gute Seele bist. Wir alle wissen deine positive Einstellung zur Kirche und deine bedingungslose Einsatzfreude sehr zu schätzen.«
»Ich tue, was ich kann.«
»Und das ist sehr viel«, sagte der Priester lobend.
Manfred Mock wußte nicht, was er darauf erwidern sollte. Es gefiel ihm nicht, gelobt zu werden. Das machte ihn immer ganz verlegen.
»Wie geht es deiner Frau?« erkundigte sich der Priester.
Mock blickte auf seine Schuhspitzen. Er schüttelte langsam den Kopf, während seine Miene einen besorgten Ausdruck annahm.
»Nicht sehr gut, Hochwürden. Sie fiebert nun schon seit Tagen.«
»Was sagt der Arzt?«
»Ich habe den Eindruck, er kennt sich nicht aus. Er möchte Adele ins Krankenhaus schicken, aber sie geht nicht. Sie will um jeden Preis zu Hause bleiben.«
»Das ist nicht gerade sehr vernünftig.«
»Das weiß ich, aber bringen Sie das meiner Frau einmal bei. Sie kann so schrecklich stur sein. Wenn sie etwas nicht will, ist es so gut wie unmöglich, sie umzustimmen. Auf mich hört sie am allerwenigsten.«
»Soll ich ihr ins Gewissen reden?«
»Vielleicht. Ich weiß es nicht. Ich möchte nicht, daß auch Sie bei Adele scheitern, Hochwürden.«
»Ich schlage vor, wir warten noch ein bißchen. Sollte sich ihr Zustand dann immer noch nicht gebessert haben, werde ich mit deiner Frau ein Gespräch unter vier Augen führen. Wäre doch gelacht, wenn wir sie nicht ins Krankenhaus kriegen würden.«
»Danke, Hochwürden. Wenn Sie mich nicht mehr brauchen, würde ich jetzt gern nach Hause gehen. Adele ist allein, und…«
»Geh nur«, sagte der Priester. »Geh mit Gott. Und Gott gebe, daß deine Frau bald wieder gesund wird.«
»Das hoffe ich auch. Ihre Krankheit belastet mich schon sehr.«
»Das kann ich mir denken. Man sieht es dir auch an, mein Sohn.«
»Es ist eine Prüfung des Herrn. Ich werde sie ertragen«, sagte Manfred Mock und ging.
Als er auf den Domplatz hinaustrat, war er in Gedanken versunken. Adeles Zustand machte ihm Sorgen. Vor allem deshalb, weil bis jetzt noch nicht
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