Tiefer Schmerz
haben konnten.
»Noch eins«, sagte Kerstin. »Gab es irgendwelche Listen über die Versuchspersonen?«
»Ja«, sagte Ernst Herschel. »Aber es sind lediglich Buchstabenkombinationen. Keine Namen. Keine Individuen. Nur Buchstaben. Es war wohl am einfachsten so.«
»Vermutlich«, sagte Kerstin Holm. »Noch einmal vielen Dank für Ihre Hilfe. Und bereiten Sie sich auf einen Besuch vor.«
»Wieso?« fragte der Professor.
»Wir schicken einen Mann zu Ihnen hinunter«, sagte Kerstin und legte auf.
»Arto?« fragte Paul.
»Unser weitgereister Freund«, sagte Kerstin.
Dann machten sie sich daran, wie mit einem einzigen Paar Augen die Akte des schwedischen SS-Arztes Anton Eriksson durchzulesen.
Das war das Schmerzzentrum.
33
Odessa war eine gefallene Schönheit. Der Satz klang wie ein Zitat aus einer Touristenbroschüre.
Arto Söderstedt empfand eine gewisse Enttäuschung darüber, daß alle seine Vorurteile bestätigt wurden. Er sah in jedem verfallenen Wodkawrack – und es gab deren nicht wenige – einen potentiellen Räuber und wurde ununterbrochen von Bettlern angegangen, meistens Kindern, die ihm zu maßlos überhöhten Preisen fleckige Ansichtskarten verkaufen wollten. Und die Stadt hatte einen ganz speziellen Duft. Wie eine in die Jahre gekommene Hure, dachte er brutal. Billiges Parfüm, um den Verfall zu überdecken.
Dagegen hatte er noch nicht die Möglichkeit gehabt, an unwilligen Oststaatenpolizisten ohne Computer sein Verhandlungsgeschick zu erproben. Er wartete noch immer darauf, daß geöffnet wurde. ›Vielleicht etwas später‹, wie ein neben dem Polizeipräsidium wohnender Mann in schwerfälligem Deutsch ausgestoßen hatte.
Es lag kein Grund vor, zum Hotel zurückzugehen, das in seiner Mischung aus luxuriöser Pracht und Verfall als überdeutliches Symbol für Odessa angesehen werden konnte. Also wanderte er. Er fand auch den Strand – den es nicht gab. Denn Odessa war eine Hafenstadt mit der kleinen Eigenheit, daß sie an die hundert Meter fast senkrecht oberhalb des Wassers lag. Das einzige, was die Stadt mit dem Wasser verband, war, genaugenommen, die weltberühmte Treppe, über die in Eisensteins Revolutionsfilm Panzerkreuzer Potemkin der Kinderwagen herunterrollt. Erst durch den Bau der Treppe im neunzehnten Jahrhundert entstand eine direkte Verbindung zwischen der Stadt und dem Wasser, zwischen Odessa und dem Schwarzen Meer.
Die Stadt war einmal mächtig gewesen, und vermutlich machte sie, vom Wasser aus gesehen, noch immer einen mächtigen Eindruck. Aber wenn man sich durch ihre Straßen bewegte, nahm man sie in erster Linie als ärmlich wahr. Ein Relikt aus vergangenen großen Zeiten. Natürlich erfolgten die Transporte zum wichtigsten Hafen der Ukraine jetzt auf anderen Wegen, doch zu jener Zeit war die Treppe von lebhaftem Verkehr gekennzeichnet. Es war kein Zufall, daß sie bei Eisenstein als Symbol für die kapitalistische Wirtschaft diente.
Zumindest war das Arto Söderstedts Interpretation.
Jetzt war die Treppe Aufenthaltsort für alles erdenkliche gesellschaftliche Treibgut, Bettler und Drogensüchtige, und die Stufen zu betreten, kam direkter Gesundheitsgefährdung gleich. Bevor er sie betrat, glitt Söderstedt seitwärts in ein Gebüsch und brach einen Ast ab. Er sah wie ein Spazierstock aus – aber eigentlich war er eine Waffe. Er war bereit, sich zu verteidigen. Es durfte nur nicht so aussehen.
Er stieg hinunter und wieder hinauf. Er zählte siebzehn Attacken von Bettlern, die als Ansichtskartenverkäufer verkleidet waren. Dazu – trotz aller Versuche, sich mit dem Stock gegen Annäherungsversuche zu wehren – drei Wodkaflecken auf der Kleidung. Zum Glück keine Kotze.
Als er das obere Ende der Treppe wieder erreichte, blieb er mit dem Stock in der Hand stehen. Im nächstgelegenen Schaufenster stand Onkel Pertti mit der Hand am Säbel. Arto starrte ihn wie verhext an. Er starrte zurück. Arto ließ den Stock fallen. Onkel Pertti ließ den Säbel fallen. Arto streckte ihm die Zunge heraus. Onkel Pertti streckte ihm die Zunge heraus.
Der Bann war gebrochen.
Was wollte der alte Knacker eigentlich? dachte Arto Söderstedt und ließ ihn zwischen den Stiefeln im Schaufenster stehen. Wieso diese Hartnäckigkeit?
Er schlenderte die merkwürdige Strandpromenade hundert Meter über dem Wasser entlang und blickte auf die starre schwarze Oberfläche des Schwarzen Meers hinaus, das wunderschön in der Morgensonne glänzte. Er merkte, daß seine Einstellung zu dieser Stadt
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