Tiefer Schmerz
ignorierte ihn glockenrein.
»Hör zu jetzt, was ich gefunden habe«, sagte er und betrachtete den Bildschirm vor sich.
»Ich höre«, sagte Hultin.
»›Shtayf‹ auf dem Südfriedhof, der Mann ohne Nase, hieß Franz Kouzmin. Aber er wurde nicht unter diesem Namen geboren. Er wurde im Januar 1935 als Kind jüdischer Eltern in Berlin geboren. Sein Name war Franz Sheinkman.«
Es war einen Moment still am anderen Ende. »Herr Gott«, sagte Hultin dann.
»Das kann man wohl sagen«, gab Söderstedt zurück.
»Erzähl mehr.«
»Er war Witwer und Alkoholiker und hatte gerade aufgehört zu trinken. Frohen Sinnes verläßt er heimlich die Sowjetunion und reist nach Schweden, genauer gesagt zu seinem Vater Leonard Sheinkman im Bofinksvägen in Tyresö. Irgendwie ist es ihm gelungen, seinen Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Das bringt ihn dazu, mit dem Trinken Schluß zu machen. Sein Vater glaubt ja, daß er tot ist, zusammen mit seiner Mutter in Buchenwald ermordet. Aber es kam anders. Er wurde das Opfer medizinischer Experimente, in deren Verlauf ihm die Nase abgetrennt wurde. Am Abend des siebten September 1981 kommt er bei seinem Vater in Tyresö an. Was bei dieser Begegnung geschieht, wissen wir nicht. Was wir wissen, ist, daß er zwei Tage später erstochen bei einem kleinen Badesee in der Nähe gefunden wird.«
»Ich verstehe«, sagte Hultin.
»Was verstehst du?«
»Daß du ausgezeichnete Arbeit geleistet hast. Kannst du die Akte hermailen? Erlauben sie das?«
»Ich glaube schon«, sagte Söderstedt und warf einen Blick zu dem großen Alexej Svitlytjnyj hinauf. Die Zigarette war jetzt wieder so klein, aber er mußte gestehen, daß er das Interesse daran verloren hatte.
»Dann mußt du jetzt nach Weimar fahren«, sagte Hultin. »Du sollst dich mit einem Professor Ernst Herschel am Historischen Institut der Universität Jena treffen. Fahr, sobald du kannst. Weitere Instruktionen bekommst du unterwegs.«
»Gib mir einen Tip«, bat Söderstedt.
»Das Institut, wo die Methode mit der Nadel im Gehirn entwickelt wurde.«
»Ah«, sagte Söderstedt und drückte auf den Ausknopf.
Svitlytjnyj sog den mikroskopisch kleinen Zigarettenstummel in den Mund, löschte ihn mit ein bißchen angesammeltem Speichel, spuckte ihn aus und hatte unmittelbar eine neue, fertig gerollte Zigarette bereit, die er anzündete, während er sich über den Computer beugte und Arto Söderstedt half, sich mit den kyrillischen Befehlen auf dem Bildschirm zurechtzufinden.
Dann flog die Akte Franz Kouzmin-Sheinkman über Europa.
Söderstedt kam es plötzlich so vor, als wäre er nur nach Odessa gerufen worden, um die Computerausrüstung zu bewundern und in der gesamteuropäischen Polizeigemeinschaft Goodwill zu verbreiten.
Er sagte: »Ich müßte die Akte auch zum eigenen Gebrauch kopieren.«
Er bekam eine Diskette, und der Rechner fragte ihn:
›Save Kouzmin?‹
Er antwortete ›Yes‹.
Mit Nachdruck.
34
Anton Eriksson wurde 1913 in dem kleinen Ort Örbyhus nördlich von Uppsala geboren. Mit gut zwanzig Jahren wurde er an der Universität Uppsala immatrikuliert, und nach Studien unter anderem in Medizin, Deutsch und Anthropologie schloß er sich dem freistehenden Institut an, das die aufsehenerregendste Institution der ruhmreichen Universitätsstadt war. 1922, im gleichen Jahr, in dem die Sozialdemokraten die Sterilisierung geistig Behinderter ›wegen der aus rassenhygienischer Sicht schädlichen Folgen der Fortpflanzung geistig Zurückgebliebener‹ befürworteten, war nämlich in Uppsala das weltweit erste Institut für Rassenbiologie eingerichtet worden, Statens institut för rasbiologi, das später zum Vorbild diente für das Kaiser-Wilhelm-Institut für Rassenhygiene in Berlin.
Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Rassenhygiene seinerseits war eine wichtige Voraussetzung für die Ausrottung der Juden.
Wenngleich die geschichtliche Entwicklung natürlich länger war. Das frühe zwanzigste Jahrhundert war von großen Veränderungen geprägt. Schweden entwickelte sich von einer Agrargesellschaft zu einer Industriegesellschaft. In Zeiten großer Umwälzungen entsteht ein Bedarf an Sündenböcken. Die Juden waren geeignete Sündenböcke, weil man ihnen sowohl Bolschewismus als auch Kapitalismus als auch Antipatriotismus, will sagen Zionismus, vorwerfen konnte – man brauchte nur zu wählen. Dieses Rassendenken war mit den Modewissenschaften Anthropologie und Genetik verbunden. Die Schwedische Gesellschaft für Rassenhygiene wurde
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