Tiefer Schmerz
ging ins Internet und suchte Weimar. Es stimmte tatsächlich, daß im Februar 1945 die Bomben der Alliierten auf Weimar fielen. Er fand eine Übersicht über die Kirchen der Stadt. Sie waren abgebildet.
Der Dom, die Stadtkirche, war ein großes Ding, das im Krieg zerstört worden war, doch sie war es nicht. Kein Punkt stimmte. Die zweite große Kirche der Stadt lag etwas weiter im Norden. Sie hieß Jakobskirche. Es war eine weiße Kirche mit einem schwarzen Turm in drei Segmenten, zuerst ein sechskantiges, bei dem jede zweite Fläche von zwei übereinander liegenden Fenstern geschmückt wurde, das untere davon etwas größer als das obere. Das nächste Segment hatte die Form einer kleinen gewölbten Mütze mit einer Uhr. Ganz oben saß die Spitze, sie sah aus wie eine Nadel.
Es bestand kein Zweifel.
Leonard Sheinkman hatte durch das Fenster die Jakobskirche in Weimar gesehen und sie mit der Zeit gleichgesetzt.
Auf der anderen Seite der Wand ging Kerstin Holms immer ergiebigeres – und immer schrecklicheres – Gespräch mit Ernst Herschel in Jena weiter.
»Schmerzzentrum?« fragte sie.
»Sie nannten es Schmerzzentrum«, sagte er. »Man experimentierte mit dem Schmerzzentrum des Gehirns. Der Hirnrinde. Das Ziel der Versuche war, beim Versuchsobjekt die größtmögliche Schmerzempfindung hervorzurufen. Die Prozedur wurde nach und nach experimentell entwickelt. Allem Anschein nach hatte es in Buchenwald mit einfachen Schmerztests angefangen. Die Ergebnisse schienen so vielversprechend zu sein, daß eine Dependance eingerichtet wurde, vermutlich auf persönlichen Befehl Himmlers. Hier kamen die Experimente ernstlich in Gang. Allmählich fand man heraus, daß eine erhöhte Blutzufuhr im Gehirn dazu beitrug, den Schmerz zu verstärken, und man fing an, die Versuchsobjekte mit dem Kopf nach unten aufzuhängen. Auch die lange Nadel wurde experimentell entwickelt. Man war offenbar einem Durchbruch sehr nahe, als die amerikanischen Truppen Weimar einnahmen. Das Archiv bricht Ende März abrupt ab. Anfang April marschierten die Amerikaner ein. Wahrscheinlich hat man beim Herannahen des Endes die Sachen gepackt und sich in Luft aufgelöst. Es wurde nie jemand zur Verantwortung gezogen. Tatsache ist, daß die Existenz des Instituts völlig unbekannt war, bevor wir das Gebäude öffneten. Alle übrigen Spuren sind verschwunden.«
»Sind die Verantwortlichen identifiziert?« fragte Kerstin Holm. Sie erkannte ihre eigene, sonst so wohlklingende Altstimme nicht wieder.
»Nicht ganz«, sagte Ernst Herschel. »Was wir wissen, haben wir dem Jüdischen Dokumentationszentrum in Wien mitgeteilt. Simon Wiesenthal, Sie wissen ja.«
»Ja«, sagte Kerstin mit der gleichen wunderlich krächzenden Stimme. »Und was wissen Sie?«
»Daß es drei verantwortliche Offiziere und Wachsoldaten gab. Alle von der SS.«
»Namen?«
»Nur zwei von ihnen. Leider.«
»Welche Namen haben Sie?«
»Lassen Sie mich zunächst die Befehlsordnung erklären. Zwei der drei waren Ärzte. SS-Ärzte, wenn Sie die Tragweite einer solchen Bezeichnung verstehen. Ärzte – und Offiziere, natürlich. Der dritte war kein Arzt. Er war der Chef. Das ganze Institut, das Schmerzzentrum, war sein Werk. Er hieß Hans von Heilberg. Er sorgte selbstverständlich dafür, daß sämtliches Material über ihn verbrannt wurde, und ansonsten ist seine Existenz in anderen Kriegsarchiven nur sehr sporadisch belegt. Nach dem Krieg findet sich keine Spur von ihm. Wir wüßten überhaupt nichts von ihm, wüßten nicht, wer der Leiter des Instituts war, wenn er nicht von einem der Ärzte wegen eines Leidens behandelt worden wäre. Ein Muttermal hatte angefangen zu bluten, und er fürchtete, er habe Hautkrebs. Das war im August 1944. Seine Befürchtung wurde von dem Arzt als ›chronische Hypochondrie‹ abgetan.«
»Ein Muttermal?«
»Ein Muttermal am Hals. Es hatte unserer Information zufolge die Form eines Rhombus. Das ist alles, was wir über Hans von Heilbergs Äußeres wissen.«
»Und die Ärzte?«
»Über einen von ihnen wissen wir sehr wenig. Es gelang ihm, sämtliche schriftlichen Spuren zu vernichten. Doch seltsamerweise vergaß er ein Foto. Wir haben also ein Bild von ihm. Es ist das einzige Bild überhaupt, das wir haben.«
»Und der zweite?«
»Ich habe es ein bißchen hinausgezögert, wie Sie sicher bemerkt haben, Fräulein Holm. Er stellt ein Problem für Sie dar. Für Ihre ganze neutrale Nation. Der zweite SS-Arzt war nämlich
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