Tiefer Schmerz
Jahre nach dem Fall der Mauer wurde am Rand des Stadtkerns von Weimar ein verfallenes und verbarrikadiertes Gebäude geöffnet, nicht weit vom Weimarhallen-Park. Das Gebäude war seit dem Krieg nicht geöffnet worden. In seinem Keller wurden die Überreste einer medizinischen Forschungsabteilung entdeckt. Sie war offenbar in höchster Eile verlassen worden. Man hatte versucht, so gut es ging, alle Spuren zu verwischen. Die Archive lagen zerstört und teilweise verbrannt im Keller. Es gab Zellen mit sehr dicken Fensterscheiben und ein paar geräuschisolierte zentrale Forschungsräume. Ich wurde sogleich hinzugezogen, sorgte dafür, daß kein Wort an die Medien drang, und sammelte einen kleinen Kreis von Forschern um mich. Minutiös untersuchten wir jeden einzelnen Quadratmeter des Gebäudes. Es dauerte mehrere Jahre. Jetzt werten wir die Funde aus. Das Gebäude ist vor ein paar Jahren vollkommen renoviert worden.«
»Und was für ein Institut war es?« fragte Kerstin Holm atemlos.
»Es wurde Schmerzzentrum genannt«, sagte Ernst Herschel.
Auf der anderen Seite der dünnen Wand las Paul Hjelm weiter in Leonard Sheinkmans Tagebuch.
Es wurde immer deutlicher.
Die Gefangenen in dem Gebäude standen Schlange in Erwartung eines Experiments, das an ihnen durchgeführt werden sollte: Ihre Seelen wurden durch ein kleines Loch in der Schläfe entleert, wo anschließend eine Kompresse angelegt wurde, um die Wunde zu verbergen.
›Erwin starb vor Schmerz.‹
Gleichzeitig fallen die Bomben der Alliierten um die Hausecke. Leonard Sheinkman kommt der Spitze der Liste immer näher. Schließlich ist er da. Das Tagebuch endet genau zu dem Zeitpunkt, als er weggeführt werden soll. Statt dessen wird er befreit. Der Gong rettet ihn. Er emigriert nach Schweden und löscht seine fürchterliche Vergangenheit aus.
Zwei Dinge von Bedeutung werden erwähnt, dachte Paul Hjelm mit messerscharfer abendländischer Logik. Zum einen die Kirche, zum anderen die Quälgeister.
Der Quälgeister scheinen drei an der Zahl zu sein. Am neunzehnten Februar spricht Sheinkman von ihnen. Sie sind anscheinend etwas unterschiedlich im Wesen. ›Ich kenne ihre Namen nicht. Sie nennen keine Namen. Es sind drei anonyme Mörder. Aber sie sind einander nicht gleich. Nicht einmal die Mörder sind sich gleich.‹
Sheinkman bekommt Kontakt zu einem von ihnen. ›Der freundlichste von ihnen. Er ist weniger deutsch als ich und sehr blond. Und er sieht sehr traurig aus. Er tötet mit Trauer in den Augen.‹ Das ist der erste.
Dann geht es weiter: ›Die beiden anderen tun das nicht. Einer tötet aus Interesse. Er ist nicht grausam, nur kalt. Er betrachtet, beobachtet, führt Buch.‹ Das ist der zweite.
Und dann gibt es noch einen. ›Aber der dritte, der mit einem kleinen lila Muttermal am Hals, das die Form eines Rhombus hat, er ist grausam. Er will töten. Ich kenne diesen Blick von früher. Er will, daß man leidet. Dann soll man sterben. Danach ist er zufrieden.‹
Paul Hjelm schrieb und systematisierte.
Quälgeist 1: Sehr blond, nicht deutsch, traurig.
Quälgeist 2: Eiskalt, passionierter Wissenschaftler.
Quälgeist 3: Grausam, sadistisch, rhombenförmiges kleines Muttermal am Hals.
Mehr war dem Tagebuchtext nicht zu entnehmen.
Statt dessen die Kirche. Die Stadt. Wo werden Leonard Sheinkmans Ehefrau und Sohn getötet? Es ist ein Lager. ›Sie sollten zum Hinrichtungsplatz des Lagers und erschossen werden.‹ Aller Wahrscheinlichkeit nach ist es wirklich Buchenwald. Danach wird er verlegt. ›Und ich bin hier gelandet.‹
Seinen Kindern sagt er, er habe in Buchenwald gesessen. Falls es sich so verhält, daß er nicht besonders weit fort verlegt wird, ist es sehr wohl denkbar, daß er meint, noch immer in Buchenwald zu sein. Einem Annex von Buchenwald.
Also Weimar.
Die Kirche. Achtzehnter Februar. Diese eigentümliche Beschreibung des konkreten Aussehens der Zeit. ›Die Zeit hat einen weißen Grund. Der weiße Grund ist vielleicht vierkantig. Dann kommt das Schwarze. Das Schwarze besteht aus drei Stücken. Das untere schwarze Stück ist sechskantig. Auf drei der sechs Flächen, jeder zweiten, sind zwei Fenster übereinander. Das untere ist etwas größer als das obere. Und unmittelbar über dem oberen beginnt das nächste Stück, das Zwischenstück. Es ist ebenso schwarz und hat die Form einer kleinen gewölbten Mütze. Da sitzt die Uhr. Zuletzt kommt die Spitze. Die Spitze ist auch schwarz und sieht scharf aus wie eine Nadelspitze.‹
Paul Hjelm
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