Tiefer Schmerz
hat.
»Ja du, Kerstin. Seine Spuren sind nicht da. Vielfraßspuren, ja, ein allgemeines Chaos, ja, vermutlich Spuren des Schmauses, aber keine Fußspuren. Wir müssen auch bedenken, daß es letzte Nacht geregnet hat.«
»Aber nicht genug, um die Buchstaben unkenntlich zu machen …«
»Er kann straff gefesselt hineingeworfen worden sein«, sagte Paul Hjelm. »Vielleicht wird er dabei verletzt. Er schafft es nur noch, dieses Wort zu schreiben, was aus irgendeinem Grund wichtiger für ihn ist, als sich aufzurichten. Dann kommen die Vielfraße.«
»Und überhaupt keine Spuren von irgendwelchen anderen?« bohrte Kerstin Holm nach. »Nicht einmal an dem scharfkantigen Wolfszaun?«
»Nein«, sagte Chavez verbissen.
»Laßt uns trotzdem versuchen zu rekonstruieren, was bei den Wölfen passiert ist«, sagte Hjelm. »Okay, er wirft die Pistole fort, denn er hat das Magazin leer geschossen. Nicht gerade raffiniert, aber begreiflich. Blinde Wut. Aber warum zerreißt er seine teure Halskette, diese galante Penisverlängerung, und wirft sie zu den Wölfen hinein?«
»Noch ein Anzeichen für eine Drogenpsychose«, sagte Holm, und Hjelm meinte sie gut genug zu kennen, um zu merken, daß sie jetzt dazu übergegangen war, sich ein bißchen mit Jorge anzulegen, dessen Gesicht immer finsterer wurde.
Und es wurde auch nicht besser dadurch, daß Hultin schlußfolgerte: »Wir wissen also nicht einmal, ob ein Verbrechen vorliegt …«
»Doch«, sagte Chavez, äußerst erregt. »Dies ist ein Mord. Und wenn es keiner ist, dann springe ich zu den Vielfraßen hinein, das verspreche ich euch.«
Die A-Gruppe starrte ihn an. Sie wünschten sich zwar alle einen richtigen Fall, keine neuen Vorortzugschlachten, doch niemand wünschte sich das inständiger als Jorge Chavez, das war klar.
»Das kann eine prima Sommerattraktion auf Skansen werden«, sagte Viggo Norlander und schnaubte sich die Nase. »Lasse Berghagen präsentiert zwischen den Gesangsnummern den unerschrockenen Vielfraßpolizisten.«
»Schnauze«, sagte Chavez.
»Ich dachte, das wäre mein Wort«, sagte Norlander.
»Mal ehrlich jetzt«, sagte Holm. »Dieses unbegreifliche ›Epivu‹ und die Tatsache, daß er das schreibt, statt seine Haut zu retten, läßt das nicht den Schluß zu, daß er wahnsinnig ist?«
»Doch«, sagte Hjelm. »Ich glaube auch, daß er wahnsinnig ist. Er steht unter Drogen und ist wahnsinnig vor Angst. Aber ich glaube, daß seine Angst begründet ist.«
»Aber der Verfolger ist offenbar nicht zu den Wölfen hineingeklettert«, sagte Holm. »Gibt es einen anderen Weg dorthin?«
Hjelm und Chavez tauschten Blicke aus, und das war kein schöner Anblick.
»Das müssen wir uns noch genauer ansehen«, sagte Hjelm trocken.
Hultin gab sich einen Ruck, schielte heimlich zur Uhr und sagte: »Na, das hat lange gedauert. Wir haben ja noch einen Vorfall durchzugehen. Kerstin?«
Kerstin Holm wirkte ein wenig ermattet. Sie befingerte die kahle Stelle an ihrer Schläfe und glaubte förmlich fühlen zu können, wie die Gedanken sich hinter dem verdünnten Schädelknochen aufzulösen begannen. »Kannst du anfangen, Sara?« fragte sie.
Sara Svenhagen, die die ganze Zeit still dagesessen hatte, sah überrascht aus. Sie verstand sich als Kerstin Holms Untergebene und hatte höchstens damit gerechnet, die eine oder andere ergänzende Bemerkung beisteuern zu können. Sie nahm einen Schluck von dem eiskalten Kaffee, verzog das Gesicht und sammelte sich: »Acht Asylbewerberinnen, die mit großer Wahrscheinlichkeit als Prostituierte gearbeitet haben, sind in der Nacht auf gestern aus dem Nebengebäude einer Flüchtlingsunterkunft, dem Norrboda Motell in Slagsta, wo sie wohnten und arbeiteten, verschwunden. Die Frauen kamen alle aus Osteuropa, drei aus der Ukraine, zwei aus Bulgarien, zwei aus Rußland und eine aus Weißrußland. In Zimmer 224 wohnten die Russinnen Natalja Vaganova und Tatjana Skoblikova, in Zimmer 225 die Ukrainerinnen Galina Stenina und Lina Kostenko, in Zimmer 226 die Ukrainerin Velentina Dontsjenkound die Weißrussin Svetlana Petruseva und schließlich in Zimmer 227 die Bulgarinnen Stefka Dafovska und Mariya Bagrjana. Daran werdet ihr euch bestimmt erinnern.
Wir haben den gestrigen Tag bis spät in den Abend hinein damit verbracht, mit den Zimmernachbarn zu sprechen. Offenbar war es ein ziemlich öffentliches Geheimnis, daß sie Prostituierte waren. Wir haben eine ganze Reihe Namen von Kunden und konnten uns überhaupt ein ziemlich gutes Bild davon
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