Tiefer Schmerz
völlig durchnäßt, völlig blutig, hatte geflüstert: »Paul, ich liebe dich.«
Damit war nicht leicht umzugehen. Nicht zuletzt für einen verheirateten Mann.
Schließlich antwortete sie: »Wir sehen da noch nicht ganz klar. Auch das muß näher überprüft werden. Möglicherweise gibt es Anzeichen dafür, daß die Prostitutionstätigkeit als solche in den letzten Tagen eingeschränkt worden ist.«
»Na dann«, sagte Hultin und klappte diverse Mappen zusammen. »Dann zeichnen sich ja die Konturen der heutigen Aufgaben ab. Paul und Jorge gehen zurück nach Skansen und untersuchen eventuelle Alternativwege zur Überwindung des Wolfszauns. Wir müssen ganz einfach Klarheit bekommen, ob wir es nun mit einem Mord zu tun haben oder nicht. Kerstin und Sara reißen sich Viggo und Gunnar unter den Nagel und vernehmen weitere Personen, die etwas mit diesem Slagsta-Bordell zu tun haben. Auch da müssen wir tatsächlich erst einmal nachfragen, ob es sich überhaupt um ein Verbrechen handelt. Vielleicht sind wir auf dem völlig falschen Dampfer. Außerdem kann ich mitteilen, daß wir das hier bekommen haben.«
Er hielt eine Ansichtskarte voller Weinflaschen in die Höhe.
»Aha«, sagte Chavez, immer noch stinkig. »Die Erben.«
»Von Arto Söderstedt im Chianti, ja«, sagte Hultin, zog die Eulenbrille hinunter auf die Nasenspitze und las: ›Ihr Racker. Hier schuftet man sich ab mit dem Keltertreten, während Ihr Euch in dem frühlingshaften Stockholm einen Lenz macht. Tja, ungleich sind des Schicksals Lose. Wißt Ihr übrigens, wie man fünf Wassermelonen auf sieben Personen verteilt? Alle Vorschläge werden dankbar entgegengenommen. Zerschneiden gilt nicht. Grüße von einem warmen, pinienduftenden und Vin Santo-vernebelten Abend.‹
»Scheißkerl«, sagte Viggo Norlander.
7
Er war unterwegs. Wie ein Wurm glitt er in verschlungenen Mustern unter der Stadt dahin. Er dachte sich, daß diese unterirdischen Muster eine Schrift darstellten, einen unterirdischen Text, der dem verborgenen Text auf der Rückseite seines eigenen Papiers entsprach. Der immer lesbarer wurde. Er trat immer klarer hervor – und wurde immer undurchdringlicher.
Beides zugleich.
Er war fast neunzig und emeritierter Professor. Als Hirnforscher hatte er sich vorgenommen, nicht altersdement zu werden, die Gehirnzellen nicht verkümmern zu lassen. Er hatte zielbewußt Gehirntraining betrieben, damit die Gehirnwindungen in Form blieben. Er las gute Bücher und Tageszeitungen in vier Sprachen, er löste die schwersten Kreuzworträtsel in Dagens Nyheter, arbeitete sich durch mindestens eine Differentialgleichung pro Tag und betrachtete die Welt mit einem nüchternen, analytisch durchdringenden Blick.
Bis vor ein paar Tagen. Da war eine vage, gleitende Gegenwart von etwas in seinem Leben in Erscheinung getreten.
Es war der Tod.
Doch der Tod pflegte keine Forderungen zu stellen. Der Tod pflegte sich nicht tagelang neben einen zu setzen und darauf zu warten, daß etwas geschah.
Er begann zu verstehen, was von ihm erwartet wurde.
Vor mehr als einem halben Jahrhundert hatte er eines Tages das Blatt seines Lebens umgedreht. Es war vollgekritzelt. Die Erzählung, die dort stand, konnte nicht fortgeführt werden. Sie war an ihr Ende gekommen. Wenn er selbst weiterleben wollte, mußte er das Blatt umdrehen und so tun, als wäre es weiß. Dann war es möglich, weiterzuschreiben. Und weiterzuleben.
Er hatte das Papier umgedreht. Er hatte das Vergangene zurückgelassen und zielbewußt – mit präzisionsgesteuerter Gehirngymnastik – ausgelöscht. Der Text auf der Rückseite des Blattes verschwand, und ein ganz neues Leben nahm seinen Anfang. Ein schwedisches Leben.
Als jetzt auch dieses schwedische Leben zum Ende gelangte, verstand er, was von ihm verlangt wurde. Er mußte das Blatt Papier umdrehen und die alte Erzählung lesen. Doch das war nicht so leicht getan. Die Erzählung kam ihm entgegen wie Schläge, wie Axthiebe, wie Metalldrähte, die durch die Schläfe eingeführt werden.
Er glaubte nicht daran, daß so alte Menschen so intensiv fühlen können. Die jüngste Hirnforschung sprach dagegen.
Er betrachtete seinen Arm. Unter dem Jackenärmel kamen die Ziffern zum Vorschein. Die Ziffern auf seinem Arm. Sobald er sie ansah, setzten sie sich in Bewegung. Genau wie er selbst. Sie waren auf dem Weg, fort von ihm.
Das gehörte zu den Dingen, die er nicht verstand.
Und da kamen die Bilder, wie Axthiebe.
Arme lagen über ihm, Beine lagen über ihm,
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