Tiefer Schmerz
dünne, dünne Beine, dünne, dünne Arme. Er bewegte sich in einem Menschenhaufen. Es waren tote Menschen. Er sah ein nach unten hängendes Gesicht, und er sah einen dünnen Draht, der in die Schläfe eingeführt wurde, und er sah, wie das nach unten hängende Gesicht von Schmerz verzerrt wurde. Und er schrieb in ein Buch. Er las den Text, den er selbst in das Buch schrieb, und das Buch sprach von Schmerz, von Schmerz, Schmerz, Schmerz.
Und er sah ein neues Bild. Es nahm ihm die Luft weg. Er öffnete eine Tür. Er öffnete die Tür seines eigenen Hauses. Hier. In Schweden. Dieses Bild gehörte nicht hierhin. Er öffnete die Haustür von innen, und da stand ein Mann ohne Nase.
Dann lag der Mann ohne Nase tot vor ihm.
Er erwachte. Er schwitzte stärker, als ein Neunzigjähriger schwitzen sollte. Die U-Bahn fuhr durch die dunklen Tunnel, weiter und weiter. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Es spielte keine Rolle. Was zählte, war das Muster.
Er verstand nicht. Die Seiten vermischten sich. Die Vorderseite und die Rückseite des Blattes vermischten sich. Warum?
Er sah einen sehr hellen Mann in Uniform. Der sehr helle Mann in Uniform hielt einen dünnen Metalldraht in der Hand.
Das Bild verschwand.
Der Zug näherte sich einer Station. Er war allein im Wagen.
Er schloß für einen Moment die Augen. Gehirngymnastik. Kehre zurück. Du hast kein Recht, die Augen zu schließen. Du darfst vor nichts die Augen verschließen.
Und er kehrte zurück zu dem Muster, das seine Reise unter der Stadt bildete. Er war immer sicherer, daß es Zeichen bildete, vielleicht Buchstaben. Stockholms U-Bahnnetz war nicht direkt das New Yorker Straßennetz, aber dennoch konnten Zeichen gebildet werden. Und Zeichen waren gebildet worden. Er war gereist, und er wußte, wie er gereist war. Nicht wohin, aber wie.
Die Reise des ersten Tages trat langsam vor seinem inneren Auge hervor. Zuerst eine senkrechte Linie.
Die U-Bahn hielt an einer Station. Die Türen wurden geöffnet. Die Station lag fast leer da. Er wußte nicht, wo er war.
Zuerst eine senkrechte Linie, dann drei waagerechte. Ein Buchstabe. Am ersten Tag war er in Form eines Buchstabens gefahren.
Draußen auf dem Bahnsteig stand eine einsame Frau und sprach in ein Mobiltelefon. Aus dem Wagen hinter ihm strömte eine Jugendgang auf den Bahnsteig. Der Buchstabe war E. Großes E.
Die Türen der U-Bahn wurden geschlossen. Die jungen Männer näherten sich der Frau. Gerade als der Zug Fahrt aufnahm, sah er ein Messer aufblitzen.
Und er konnte nichts tun.
Außer den Buchstaben des folgenden Tages zu rekonstruieren.
Manchmal offenbarten sich die Gelegenheiten völlig unerwartet.
Meistens war ziemlich viel Planung nötig, die richtige Zeit, der richtige Ort, die richtige Person. Man mußte eine Weile dranbleiben, warten, abwarten, ein bißchen herumschleichen. Man mußte sich verteilen und aussehen, als gehörte man gar nicht zusammen. Dann schlug man zu. Wenn man genügend zusammen hatte, ging man direkt damit ins Netz. Es konnte weniger als eine Stunde vergehen zwischen Diebstahl und Verkauf.
›Frischgeklautes Handy zu verkaufen.‹ Und dann ein Zeitpunkt.
Es kamen immer schnelle Antworten. Als säßen die Leute nur am Computer und warteten. Die Bullen hatten nie eine Chance.
Aber manchmal ergaben sich diese ungesuchten Gelegenheiten. Ganz von selbst. Die zählten eigentlich am meisten. Eine Braut ganz allein auf einem Bahnsteig, beispielsweise.
Hamid sah es direkt. Er wechselte einen schnellen Blick mit Adib und stieg aus. Die Kleinfuzzis hinterher. Sie waren fünf, und sie waren gefährlich. Nie leistete einer Widerstand. Das hatten sie aus dem Fernsehen gelernt, daß keiner Widerstand leistete. Man gab einfach das Handy her. Wenn jemand großkotzig aussah, bekam er eins auf die Nase. Wer sich wehrte, bekam Schnittwunden.
Es kam vor, daß Leute sich in die Hosen machten. Das war eklig.
Es war eine scharfe Braut. Das sah er, obwohl sie mit dem Rücken zu ihnen dastand und in ihr Handy sprach. Langes schwarzes Haar, rote Lederjacke, enge schwarze Hose, schwarze Joggingschuhe. Jetzt drehte sie sich um und sah sie. Sie drückte auf die Aus-Taste.
Sie war echt scharf. Wenn sie sich nicht auf einem U-Bahnperron befänden, würde sie eine kleine Extrabehandlung bekommen.
Das Adrenalin pumpte durch den Körper. Hamid zog das Messer. Jetzt müßte ihre Unterlippe anfangen zu zittern.
Der Zug aus der Gegenrichtung war in der Ferne zu hören.
»Das Handy, du Hure«,
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