Tiefer Schmerz
besucht hatte, das von einem unbekannten Täter kurz nach zehn Uhr vorgestern abend angeschossen worden war. In Djurgården, nicht weit entfernt von der östlichen Seite von Skansen. Wenn man die Bahn der Kugel schätzt und ihr folgt, gelangt man auf Höhe des Wolfsgeheges an den Zaun von Skansen. Den wenig begeisterten Kollegen von der Spurensicherung blieb damit nichts anderes übrig, als ihren Untersuchungsbereich auf die Wolfsgrube auszuweiten. Schließlich wurden drei Dinge gefunden: das Blut unseres Opfers hoch oben am Zaun, sogar am Stacheldraht darüber, außerdem auf der Mauer, die hinüberführt zu den Zuschauerplätzen auf der anderen Seite, eine zerrissene dicke Halskette aus achtzehnkarätigem Gold sowie eine mit Schalldämpfer versehene Neun-Millimeter-Pistole der guten alten Marke Luger vom Kaliber 9.0. Das Magazin war leer. Probeschüsse haben eine perfekte Übereinstimmung mit der Kugel ergeben, die aus dem Oberarm der zehnjährigen Lisa Altbratt entfernt wurde. Sie wird übrigens keine bleibenden Schäden davontragen.«
»Zusammenfassung also«, übernahm Chavez wieder.
»Wer ist unser Mann? Er trägt einen sommerlich leichten hellrosa Anzug und eine dicke Halskette aus Gold, er zieht sich von einer Pikdame Kokain rein und ist mit einer mit Schalldämpfer versehenen Luger bewaffnet. Abdrücke des einzigen bewahrten Fingers – der rechte Zeigefinger glücklicherweise – finden sich auf allen dreien: der Halskette, der Spielkarte und der Pistole. Das ist glasklar. Wer ist er?«
»Schutzgeldeintreiber?« sagte Nyberg.
»Drogenhändler«, erwiderte Norlander.
»Pornodarsteller?« konterte Nyberg.
»Zuhälter?« platzten Holm und Svenhagen wie aus einem Munde heraus.
Die beiden Frauen sahen sich eine Weile an.
»Wir warten noch damit«, sagte Chavez selbstherrlich.
»Auf jeden Fall stinkt es förmlich nach Unterwelt. Er ist nicht in unserer Verbrecherkartei, also ist er wahrscheinlich Ausländer. Wenn er Schwede wäre, hätten die Fingerabdruckdinger wahrscheinlich Sturm geläutet.«
»Aber was ist da eigentlich abgelaufen?« fuhr Hjelm fort.
»Er wird zwischen die Bäume in Djurgården gejagt. Er schießt, aber es gibt keine Anzeichen dafür, daß er außer Lisa Altbratt jemanden trifft. Er gelangt zum Zaun und entschließt sich, hinüberzuklettern, obwohl unmittelbar neben dem Zaun ein kleiner Weg entlangführt. Worauf läßt das schließen? Verzweiflung, vielleicht panische Angst. Er zerschneidet sich am Zaun die Finger, greift hemmungslos in den Stacheldraht, bekommt die Stacheln tief in die Hände, wirft sich hinüber zu den Wölfen, die aber zum Glück satt und zufrieden gewesen zu sein scheinen.«
»Nur ein Gedanke«, sagte Kerstin Holm nachdenklich.
»Gibt es eigentlich Verfolger? Kann es nicht eine Drogenpsychose sein? Das einzige, was für ein Verbrechen spricht, ist wohl das Seil ums Bein. Kann er das nicht aus irgendeinem anderen Grund da gehabt haben, ich weiß nicht, sexuellen, als einen aufreizenden Schmuck? Vielleicht wird er nur von seinen eigenen Dämonen gejagt und stolpert in schierer Panik zu den Vielfraßen hinein?«
Einen Moment lang war es still. Chavez zog seine Papiere zu Rate. »Das Seil war durchgenagt«, sagte er leise. »Es gibt keinen Beweis dafür, daß es um beide Beine geschlungen war. Es kann also um ein Bein gelegen haben, als Schmuck. Aber«, fügte er etwas lauter hinzu, »ist das wirklich wahrscheinlich?«
»Entscheidend ist doch, ob es überhaupt irgendwelche sonstigen Spuren gibt«, fuhr Kerstin Holm fort. »Das kann ja an verschiedenen Stellen sein, wenn ich mich nicht irre: außerhalb von Skansen, am Zaun, bei den Wölfen, an der Mauer, die von den Wölfen hinaufführt, auf dem Asphalt zwischen Wölfen und Vielfraßen und bei den Vielfraßen drinnen. Das letzte ist vielleicht weniger wahrscheinlich, aber der Rest? Wenn er den Zaun mit seinem Blut beschmiert, warum nicht seine Verfolger? Warum hinterlassen sie keine einzige Spur?«
Chavez kämpfte mit seinen Papieren. »Er hinterläßt offenbar selbst keine eindeutigen Fußabdrücke. Bei den Wölfen sind auf dem Weg zwischen Zaun und Mauer fast nur Steine. Auf dem Asphalt sind keine Spuren. Und auch nicht an dem Zaun hinunter zu den Vielfraßen.«
»Aber unten bei den Vielfraßen müssen doch seine Fußspuren sein«, sagte Holm. »Er schreibt doch in den Boden. Der muß doch porös sein. Wie sehen denn die Spuren da bei den Buchstaben aus?«
Chavez nickte – wie ein Mann nickt, der geschlampt
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