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Tiefer Schmerz

Tiefer Schmerz

Titel: Tiefer Schmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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Dann gelangten sie in Leonard Sheinkmans kleinen Unterschlupf. Es war hell und warm. Auch hier waren die Wände mit Büchern vollgestellt, hauptsächlich medizinische Fachliteratur, aber auch eine ganze Reihe literarischer Klassiker. Auf dem Küchentisch lag tatsächlich ein ausgefülltes Kreuzworträtsel aus Dagens Nyheter – sonst nichts. Es war klinisch sauber.
    »Haben Sie hier abgewaschen?« fragte Paul Hjelm.
    »Nein«, sagte Sheinkman. »All das hat er problemlos selbst gemacht. Er mochte keine Unordnung, das ist eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen. Immer alles sauber und an seinem Platz. Es war ziemlich anstrengend. Auch für meine Mutter, meine ich mich zu erinnern. An sie erinnere ich mich allerdings nicht so gut. Die Bilder verblassen langsam. Bald ist nichts mehr da.«
    »Ist es Ihnen recht, wenn ich die Wohnung allein ansehe? Wir schicken nachher auch noch ein paar Leute von der Spurensicherung her.«
    »Natürlich«, sagte Harald Sheinkman und verschwand lautlos.
    Paul Hjelm blickte ihm einen Moment nach. Dann ging er ein wenig unschlüssig durch die kleine Wohnung; er zählte zwei Zimmer und Küche. Das Licht fiel durch eine ganze Reihe schräger Dachfenster herein, und sämtliche Außenwände waren Schrägen. Eine Art von Existenz in der Schrägen. Und ohne Zweifel war diese Existenz in der Schrägen makellos gepflegt. Nirgendwo ein Staubkorn.
    Zuerst jüdischer Dichter im kosmopolitischen Berlin der zwanziger und dreißiger Jahre. Dann Frau und Kind. Und schließlich das Konzentrationslager, in dem Sohn und Ehefrau und Mutter und Vater und sämtliche Verwandten unter grauenhaften Verhältnissen ums Leben kommen. Er überlebt, halb verhungert und gefoltert. Jede Illusion, jeder Glaube, jede Hoffnung ist dahin. Er geht in ein fremdes Land, fort von allem. Er fängt noch einmal an, from scratch. Lernt die Sprache, gründet eine neue Familie, verschafft sich eine Ausbildung, bekommt eine respektable Arbeit, wird angesehener Forscher, kauft ein Haus direkt vom Architekten, rettet einen Sohn, der im Begriff ist, zugrunde zu gehen, und wohnt nach dem Tod der Ehefrau weiter mit dem Sohn zusammen. Es hört sich an, als wäre Leonard Sheinkman das Unmögliche gelungen – wie merkwürdigerweise vielen anderen. Er bekam ein gutes neues Leben. Aber wie es dabei in seinem Innern aussieht, vermag niemand zu sagen. Der Zwang zu Ordnung und Sauberkeit war vollkommen natürlich nach Jahren im Konzentrationslager; daraus ließen sich keine Schlüsse ableiten.
    Paul Hjelm mußte das Tagebuch lesen.
    Es ließ sich nicht umgehen.
    Schließlich fand er es in einem Bücherregal quer über den Büchern; es war das einzige in der ganzen Wohnung, was ein bißchen gegen die generelle Ordnung verstieß. Die vergilbten handbeschriebenen Seiten waren intensiv gelesen worden, geknickt und abgegriffen. Alles in allem umfaßte das Bündel nicht mehr als zehn Seiten.
    Und auf deutsch.
    Ein Strich durch die Rechnung. Doch verglichen mit der Leistung Leonard Sheinkmans war das ein Klacks. Er mußte ganz einfach sein vergessenes Deutsch vom Gymnasium wieder auffrischen.
    Die Seiten waren sorgfältig datiert und paginiert, und es schien keine verloren zu sein. Es hieß also nur anfangen.
    Nur …
    Er nahm die vergilbten Seiten an sich und stieg die Wendeltreppe hinab. Harald Sheinkman saß auf dem Sofa und schien erschöpft zu sein. Er stand auf, als Hjelm herunterkam, und trat ihm entgegen.
    »Dies ist wohl das Tagebuch«, sagte Hjelm und wedelte mit den Seiten. »Ist es in Ordnung, wenn ich es mitnehme? Sie bekommen es zurück.«
    »Natürlich«, sagte Harald Sheinkman. »Sie lesen also Jiddisch?«
    Hjelm stutzte und starrte verblüfft auf die vergilbten Blätter. Die Worte veränderten sich vor seinen Augen. Dann blickte er auf und sah Sheinkman an. Ein sehr entferntes Lächeln spielte um dessen Mundwinkel.
    »Nein«, sagte Harald Sheinkman. »Nur ein Scherz. Es ist Deutsch.«
    Paul Hjelm betrachtete ihn, dann fing er an zu kichern. Der Mann gefiel ihm. »Noch eine Frage«, sagte er schließlich. »Was für ein Mensch war Ihr Vater?«
    Sheinkman nickte, als habe er auf die Frage gewartet. »Ich habe viel darüber nachgedacht. Schwer zu sagen. Als wir Kinder waren, stellte er hohe Ansprüche. Ziemlich hart, ein bißchen der klassische Patriarch. Wir sollten alle drei Ärzte werden, da gab es gar keine Diskussion. Mehr oder weniger ist ihm das ja auch gelungen. Am besten ging es meinem kleinen Bruder David; er ist als

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