Tiefer Schmerz
nicht, warum er dort war?«
»Wir haben ihn doch bei der Polizei als vermißt gemeldet.«
»Vermißt gemeldet?« stieß Hjelm aus, vielleicht ein wenig barsch.
Sheinkman blickte auf. »Sie wußten also nichts davon? Gibt es keinen Kontakt zwischen den verschiedenen Polizeidienststellen?«
Hjelm überlegte einen Moment. »Ich werde nachforschen, warum diese Information mich nicht erreicht hat, und ich bedaure das. Ihr Vater war also verschwunden?«
»Seit fünf Tagen.«
»War das etwas Ungewöhnliches?«
»Er hatte seinen eigenen Haushalt und war wohl ein wenig ein Eigenbrötler, wir hatten also nicht ständig Kontakt, aber meines Wissens ist er früher nie über Nacht fort gewesen. Nicht seit dem Tod meiner Mutter. Wir haben ihn schon nach der ersten Nacht als vermißt gemeldet.«
»Ihr Vater war fast neunzig. War er auf die eine oder andere Weise verwirrt? Das wäre in diesem Alter ja nichts Ungewöhnliches.«
»Überhaupt nicht«, sagte Sheinkman. »Er war Gehirnforscher und trainierte sein Gehirn sehr bewußt, um jede Form von Senilität zu vermeiden. Als er verschwand, lag das große Kreuzworträtsel von Dagens Nyheter auf dem Tisch. Gelöst bis auf den letzten Buchstaben.«
»Haben Sie nach ihm gesucht?«
»Ich habe es versucht. Ich war an seinem alten Arbeitsplatz im Karolinska, ich war in der KB, wo er zu sitzen pflegte.«
»In der Königlichen Bibliothek?«
Harald Sheinkman zeigte die Andeutung eines Lächelns.
»So fragen die meisten: KB? Die Kneipe? Nein, er ging nie in die Kneipe, dagegen aber in die Bibliothek. Er saß gern den ganzen Tag dort, glaube ich. Aber mir wurde auf einmal klar, wie wenig ich über sein tägliches Leben wußte. Ich hatte zuviel gearbeitet und ihn vernachlässigt, und jetzt war es zu spät, das ahnte ich. Ich wußte nicht, wo ich suchen sollte. Und keiner von den Menschen, die ich fragte, hatte ihn gesehen.«
»Und es hat keine Anzeichen irgendwelcher Art gegeben, daß etwas passiert war? Etwas Ungewöhnliches?«
»Nein. Und mir fallt auch kein Grund ein, warum er auf dem Südfriedhof gewesen sein sollte. Er war überzeugter Atheist und Materialist, wenn auch mit Respekt für unsere jüdische Tradition, aber aus welchem Grund er sich dorthin begeben haben sollte, ist mir rätselhaft.«
»Darf ich fragen, warum Ihr Vater bei Ihnen lebte?«
»Es war umgekehrt. Dies ist unser Elternhaus. Er hat das Haus in den fünfziger Jahren direkt vom Architekten gekauft. Anders Wilgotsson, falls Sie ihn kennen. Es war Vaters Vorschlag, daß ich als der älteste Sohn das Haus übernehmen sollte und er den Dachboden für sich ausbaute. Und es war eine gute Lösung. Familienkontakt und gleichzeitig Selbständigkeit. Vielleicht wurde es ein bißchen zu viel Selbständigkeit … Er verschwand, ohne daß ich es bemerkte. Und wurde ermordet. Unglaublich.«
»Was arbeiten Sie, Herr Sheinkman?«
»Ich fürchte, ich bin in die Fußspuren meines Vaters getreten. Ich bin Arzt. Allerdings nicht in der … zerebralen Branche.«
Es gelang Hjelm, das spontane Lachen in ein Husten und ein darauf folgendes friedliches Lächeln umzulenken.
»Sie haben offenbar unseren verehrten Chef im Fernsehen gesehen.«
Sheinkman produzierte in etwa das gleiche Lächeln.
»Eine nicht besonders würdige Darbietung, um es einmal so zu sagen«, erklärte er mit einer Neutralität, die der Hultins nicht nachstand.
»Nein«, sagte Hjelm. »Nicht besonders.«
»Aber Sie sollen ja recht tüchtig sein. Die A-Gruppe, heißt es wirklich so?«
»Es ist ein Spitzname. Der offizielle Name lautet: ›Spezialeinheit beim Reichskriminalamt für Gewaltverbrechen von internationalem Charakter‹.«
»Es hört sich so an, als wären Sie hierfür die Geeigneten.«
»Leider sind wir das. Die Tat, der Ihr Vater zum Opfer gefallen ist, muß als ein Gewaltverbrechen von internationalem Charakter bezeichnet werden. Sind die Details Ihnen bekannt?«
»Ja«, sagte Harald Sheinkman und blickte auf die Tischplatte. »Es hört sich an wie eine Art von Folter.«
»Möglicherweise. Sagt Ihnen das Ganze vielleicht etwas? Als Arzt? Als Sohn eines Mannes, der im Konzentrationslager gewesen ist?«
Sheinkman sah Hjelm mit einem neuen Blick an. Als habe er gerade beschlossen, alles Drumherumgerede beiseite zu lassen, die kleinen mildernden Lügen zu streichen. Vielleicht hatte er Vertrauen gefaßt zu einem blassen, verschwitzten Kriminalbeamten mit rotem Mal auf der Wange.
Er sagte: »Über die Zeit im Lager weiß ich sehr wenig;
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