Tiefer Schmerz
Gehirnchirurg tätig und Dozent im Karolinska und wird vermutlich bald Professor. Allerdings später als Vater. Er ist jetzt dreiundvierzig. Zwischen uns beiden liegt Channa, die begehrte auf und war in den Siebzigern in der linken Szene aktiv; jetzt unterrichtet sie an der Sozialhochschule. Und ich, als ältester Sohn, absolvierte problemlos mein Medizinstudium, weigerte mich aber danach, mich auf etwas anderes zu spezialisieren als auf Allgemeinmedizin. Zunächst kam es Vater hart an; er hatte in mir den Erwählten gesehen. Und als ich anfing, in Tensta und Rinkeby zu arbeiten, schüttelte er nur den Kopf. Aber ich glaube, daß er schließlich respektierte, was ich tat. Er war kein unzugänglicher Mensch. Als es mir dreckig ging, war er ein Fels in der Brandung. Als die ganze Welt schwankte, war er der feste Punkt. Da hatten wir ein wirklich gutes Verhältnis. Er war gerade pensioniert und noch sehr vital und hatte sich nach dem Tod meiner Mutter endlich erholt. Doch dann glitten wir wieder auseinander, und ich kann eigentlich nicht sagen, daß ich ihn kannte. Er war ein Mann, der einst ein ganz anderes Leben gehabt hatte, und in das Leben kam nie einer von uns hinein, nicht einmal meine Mutter.«
Hjelm nickte und streckte ihm die Hand hin. »Vielen Dank«, sagte er. »Wir lassen wieder von uns hören.«
»Es war schön, mit Ihnen reden zu können«, sagte Sheinkman und fügte hinzu: »Paul.«
»Es geht mir genauso. Harald.«
Auf dem Weg hinaus verabschiedete Hjelm sich von der Tochter. Eine Weile blieb er noch in dem alten Audi sitzen und blätterte die vergilbten Seiten durch. Dies war also in einem Konzentrationslager geschrieben worden, in dem grauenhaften Buchenwald. Irgendwie war es Leonard Sheinkman, dem Dichter aus Berlin, gelungen, Papier und Bleistift zu ergattern und vor den Lagerwachen zu verstecken. Das war eine bemerkenswerte Leistung.
Er startete den Motor, verließ den Bofinksväg und fuhr hinaus auf den Breviksväg, der bald zum Tyresöväg werden sollte. Der Himmel war noch immer klarblau, aber es war, als sei jene Haut durchbohrt und weggeweht worden – und der Himmel dahinter war tatsächlich blau. Der Druck, der auf der Landschaft gelegen hatte, war geschwunden, und die Natur war friedlich und frühlingshaft schön.
Es würde, trotz allem, auch in diesem Jahr wieder Sommer werden.
Das Handy klingelte. Es war Jorge Chavez. »Tatsächlich.« Das war alles.
Und Paul Hjelm verstand sofort. »Sie war also da?« sagte er.
»Die Techniker hatten eine unglaubliche Masse Kram aus dem Vielfraßgehege zusammengetragen, das muß ich sagen. Angefangen bei Brotstücken, als wären die Vielfraße Enten, bis zu Mausefallen. Zwei Mausefallen waren im Vielfraßgehege, eine davon war noch gespannt.«
»Das ist ein neues Volksvergnügen. Tiere zu quälen. Pferde werden in unseren offenen Landschaften regelmäßig gequält.«
»Außerdem acht Bierdosen. In einer der Bierdosen lag die lange, spitze Nadel. Ein Vielfraß muß unter dem Einfluß des Rauschgifts den Schädel gefressen, die Nadel wie eine Gräte in den Hals bekommen und sie irgendwie in eine Bierdose ausgespuckt haben.«
»Unergründlich sind die Wege des Herrn«, sagte Paul Hjelm und fuhr nach Hause.
Nach Hause ins Polizeipräsidium.
15
Am Montag, dem achten Mai, um halb neun, geschah im Polizeipräsidium auf Kungsholmen in Stockholm ein Wunder. Zum erstenmal in der Weltgeschichte schien die Sonne in die Kampfleitzentrale.
Nacheinander betraten die Mitglieder der A-Gruppe den tristen Saal, nacheinander stutzten sie beim Anblick des kleinen Sonnenlichtflecks auf dem Fußboden gleich hinter der Tür. Beinah ehrfürchtig drückten sie sich daran vorbei und setzten sich weiter vorn im Saal auf ihre Plätze. Als letzter traf Viggo Norlander ein und schloß die Tür hinter sich. Der Sonnenfleck verschwand. Er öffnete die Tür wieder – und schwupps, war der Sonnenfleck wieder da.
Die Menschen in der Kampfleitzentrale waren indessen Detektive und keine Mystiker. Die Ursache mußte erforscht und das Wunder entmystifiziert werden. Mit gemeinsamen Anstrengungen wurde der Sonnenfleck auf fünf Faktoren zurückgeführt. Als erstes schien draußen die Sonne. Als zweites schien sie durchs Fenster der Damentoilette, die wir zu einem früheren Zeitpunkt schon besucht haben. Als drittes war die Tür besagter Damentoilette in geöffneter Stellung von einer auf dem Boden liegenden zerknüllten Zigarettenschachtel festgehalten worden. Als viertes wurden
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