Tiefer Schmerz
Antisemitismus ansprechen zu müssen.
Er war nämlich Schwede, und Schweden mögen solch tabuisierte Themen nicht. Wir kriegen Schweißausbrüche. Am allerliebsten gehen wir ihnen aus dem Weg, und wenn wir dennoch an sie rühren müssen, dann tun wir es mit einer Art distanzierter Ehrfurcht und einer Reihe von Klischees – wie daß es nie wieder geschehen darf. Die Vernichtung der Juden ist eine Abstraktion, über die man gern in großen Worten von einem Rednerpult spricht, mit der man sich jedoch nicht näher einläßt. Wir waren nicht dabei, wir können es nie verstehen, wir haben mit der Sache nichts zu tun, damit müßt ihr selbst klarkommen. Schwedische Geschichtslosigkeit und vorgetäuschte Neutralität in einer unheiligen Allianz. Wir waren in höchstem Maße dabei. Wir haben in allerhöchstem Grad mit der Sache zu tun. Wir können sie in allerhöchstem Grad verstehen. Wir müssen.
Weltmeister im Unter-den-Teppich-Kehren.
Ja, Paul Hjelm gestand es sich ein. Seine Erregung kam daher, daß es sich um ihn selbst handelte. Dieses jämmerliche, oberflächliche Wissen. Fragmentarische Bilder von toten, ausgemergelten Körpern. Jahreszahlen. 1939. 1945. D-Day. Der Wüstenkrieg. Stalingrad als der Wendepunkt des Krieges. Keimfrei und zurechtgelegt wie die Absturzbroschüren auf den Flugzeugsitzen. Fröhlich und heiter greifen wir nach unseren Sauerstoffmasken, atmen still und ruhig, worauf wir uns der Reihe nach und in guter Ordnung zum Notausgang begeben und unter einem klarblauen Himmel lächelnd die aufblasbare Rutschbahn in die einladend schaukelnden blauen Wellen hinuntergleiten.
Und bald waren alle Zeugen tot.
Doch, es lastete ein wirklicher Druck auf der Landschaft. Das Blaue war nicht blau. Das Grüne nicht grün.
Und da war er im Bofinksväg in Nytorp.
Das Haus, in dem Leonard Sheinkman gewohnt hatte und in dem sein Sohn wohnte, war kaum als luxuriös zu bezeichnen, aber es war schön. Ein stilvolles Haus aus den dreißiger Jahren, etwas abseits gelegen und mit herrlichem Meerblick. Wahrscheinlich ein architektonisches Originalwerk aus der Zeit, als solche nicht nur für Neureiche geschaffen wurden, die darauf bestanden, alles selbst zu entwerfen. Nach IKEA-Geschmack.
Er stieg aus dem alten Audi, der sich, da es keinen Stau gegeben hatte, auf dem Weg hierher richtig anständig aufgeführt hatte, und hoffte, daß sein Achselschweiß nicht zu riechen war. Es gibt ja bekanntlich zwei Sorten Achselschweiß, den, der riecht, und den, der nicht riecht. Der eine ist durch Anstrengung hervorgerufen, der andere durch Nervosität. Es würde sich herausstellen, von welcher Sorte das klebrige Naß in seinen Achselhöhlen unter dem Leinenjackett und dem blaßgelben T-Shirt war.
Hätte er sich nicht etwas respektabler anziehen sollen?
Jetzt ist es gelaufen, dachte er und klingelte.
Eine süße Sechzehnjährige machte ihm auf. Im gleichen Alter wie seine Tochter Tova. Sie war dunkel und streng gekleidet und machte den Eindruck aufrichtiger Trauer.
»Paul Hjelm«, sagte er und hielt ihr seinen Polizeiausweis hin. »Ich bin von der Polizei. Sind deine Eltern zu Hause?«
»Geht es um Großvater?« fragte das Mädchen.
»Ja.«
Sie verschwand. Statt ihrer erschien ein gutgekleideter Mann von etwas über Fünfzig.
»Ja bitte?« sagte er.
»Paul Hjelm, Reichskriminalpolizei. Sind Sie Harald Sheinkman?«
Der Mann nickte und bedeutete ihm, hereinzukommen.
Paul Hjelm wurde in ein Zimmer geführt, das die Bibliothek sein mußte. Jedenfalls waren sämtliche Wände von Büchern bedeckt, und der im übrigen anspruchslose Raum lag in einem angenehmen Dunkel. Lesedunkel. Er fühlte sich sogleich zu Hause. Am liebsten wäre er an ein Regal getreten und hätte die Buchrücken durchgesehen, aber er setzte sich statt dessen aufs Sofa. Harald Sheinkman setzte sich dicht neben ihn. Die Nähe war ihm nicht einmal unangenehm.
»Er war fast neunzig«, sagte Harald Sheinkman gedämpft. »Wir wußten natürlich, daß er jederzeit sterben konnte, aber die Umstände …«
Er verstummte und starrte auf den groben Tisch aus Kiefernholz.
»Mein aufrichtiges Beileid«, sagte Hjelm und kam sich vor wie ein Tölpel.
»Was möchten Sie wissen?«
»Zu allererst, ob Sie eine Ahnung haben, was er auf dem Südfriedhof gewollt hat. Liegen dort Angehörige von Ihnen?«
»Nein. Auf Vaters Seite gab es ja aus erklärlichen Gründen keine Angehörigen, und die Familie meiner Mutter liegt auf dem Nordfriedhof. In Solna.«
»Und Sie wissen
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