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Tiefer Schmerz

Tiefer Schmerz

Titel: Tiefer Schmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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mein Vater schwieg darüber, als verdrängte er es bewußt. Und meine Kompetenz als medizinischer Experte ist begrenzt. Ich habe mein ganzes Leben als Allgemeinpraktiker in sogenannten Problembereichen gearbeitet. Ich habe mich um Menschen gekümmert, die geflohen waren vor Folter und Hunger und Strapazen. Das war oft ein Vierundzwanzigstunden-Job, zuweilen an der Grenze des Erträglichen. Es blieb gar nicht aus, daß man vieles mit nach Hause schleppte. Außerdem habe ich bei Ärzte ohne Grenzen mitgemacht und bin in der Welt herumgereist. Schließlich war ich ausgebrannt. Mehrere Monate lang vollkommen passiv; erst jetzt, wo es auch Journalisten zu treffen beginnt, wird es beachtet. Krankenhauspersonal ist seit Jahrzehnten ausgebrannt. Meine Frau hat mich verlassen und unsere Tochter mitgenommen, ich konnte den Kredit für unser Wohnrecht auf Södermalm nicht bezahlen und mußte hierher ziehen, zu meinem Vater. Das war vor zwölf Jahren. Ich lag hier, auf diesem Sofa, völlig am Ende. Ich war neununddreißig und hatte alles verloren. Da kam mein Vater auf die Idee, mir das Haus zu überlassen und sich selbst im Dachgeschoß eine Wohnung auszubauen. Ich glaube, man kann sagen, daß das meine Rettung war. Ich fing noch einmal von vorn an. Baute alles wieder auf. Bekam das Besuchsrecht für meine Tochter. Fing wieder an zu arbeiten, und außerdem begann ich zu schreiben. Jetzt habe ich meine frühere Arbeitskapazität wieder erreicht.
    Doch sie sieht jetzt etwas anders aus. Ich schrieb zunächst Lageberichte über das schwedische Gesundheitswesen und die Vororte mit hohem Einwandereranteil. Es war schwer, das zu veröffentlichen. In letzter Zeit habe ich angefangen, Prosa zu schreiben. Ich habe ein paar Erzählungen in Zeitschriften publiziert und arbeite an einem Roman. Man könnte sagen, daß ich genau den entgegengesetzten Weg zu dem meines Vaters gegangen bin.«
    Er schwieg. Paul Hjelm betrachtete ihn. Dies war eine Warnung: Wie leicht machte man sich von einem Menschen ein falsches Bild. Wie leicht beurteilte man ihn voreilig. Er hatte Harald Sheinkman als den Professorensohn gesehen, dem alles geschenkt worden war, und in gewisser Weise mochte das zutreffen. In gewisser Weise aber auch ganz und gar nicht. Eine Lebensweisheit: Nie voreilige Schlüsse ziehen über andere Menschen. Es endet immer ungut.
    Er wollte Harald Sheinkman etwas über seine Überlegungen zur Gegenwart sagen. Daß wir zwar den gegenwärtigen Rechtsextremismus gehörig unter Kontrolle behalten müssen – aber daß die Geschichte sich wahrscheinlich nicht in so direkter Form wiederholen würde. Von der Wiederkehr des Faschismus war er ziemlich überzeugt, doch würde er wahrscheinlich auf eine eher schleichende, indirekte Weise eintreten – er würde sich sozusagen in unserem Rücken anpirschen, während wir auf seine einfachen, augenfälligeren Erscheinungsformen achtgaben – und plötzlich würden wir einem Menschen gegenüber sitzen und ihn als Objekt ansehen, als Gegenstand, als Ertragspotential. Daß der Ökonomismus das Vorstadium des neuen Faschismus war, davon war er überzeugt.
    Doch er sagte nichts davon und wurde statt dessen wieder zum Polizisten: »In welcher Weise sind Sie den entgegengesetzten Weg gegangen wie Ihr Vater?«
    »Ich bin der Arzt, der Schriftsteller wurde. Er war der Schriftsteller, der Arzt wurde. Vor dem Krieg war er Schriftsteller, so viel weiß ich über seine Vergangenheit. Er kam aus Berlin und hatte eine Frau und einen kleinen Sohn, die beide das Konzentrationslager nicht überlebt haben; ich habe also einen seit langem toten Halbbruder. Die ganze Familie wurde ausgelöscht. Er blieb als einziger übrig. Damit konnte er nicht leben. Also fing er noch einmal von vorn an. Wendete das Blatt im Buch des Lebens, nehme ich an. Er war also vorher Schriftsteller, ein ziemlich verträumter und lyrischer Dichter, den Tagebüchern nach zu urteilen, aber nach dem Krieg wandte er sich der Naturwissenschaft und der Medizin zu. Ich vermute, er brauchte etwas Handfesteres und Beständigeres. Der Geist starb im Lager, die Materie überlebte. So kann man es vielleicht sehen.«
    »Er hat also in Buchenwald Tagebuch geführt? Gibt es das noch?«
    Sheinkman nickte. »Oben bei ihm.«
    »Apropos«, sagte Hjelm. »Ich muß Sie bitten, mir seine Wohnung zu zeigen.«
    »Natürlich«, sagte Harald Sheinkman, nickte und stand auf. Hjelm folgte ihm durchs Haus und eine Wendeltreppe hinauf, die relativ jungen Datums zu sein schien.

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