Tiefer Schmerz
schwingst und Polizisten angreifst, als wäre nichts geschehen?«
»Kein Stück«, stöhnte Sandberg. »Es war dunkel.«
»Willst du wirklich, daß wir die Sache auf diese Weise klären? Ich will es nicht.«
Und dann zog Gunnar noch ein Stück fester an. Er spürte, wie Sandbergs einer Hoden eigentümlich an dem Baseballschläger knirschte.
»Jajaja, tu das weg, dann erzähl ich. Nimm das weg!«
Weil die Stimme um eine gute Oktave gestiegen war, schien es an der Zeit zu sein. Nyberg riß den Baseballschläger aus dem Skinheadschritt. Sandberg sank zu Boden, beide Hände in den Schritt gepreßt.
»Also, laß hören«, sagte Gunnar Nyberg.
»Es war verdammt unheimlich. Sie glitten durch den Wald heran, dunkle, magere Gestalten. Als ob sie direkt aus den Bäumen herauskämen. Ganz schwarz gekleidet, wie Taucheranzüge, und mit schwarzen enganliegenden Kapuzen, wie Henker. Und sie hängten diesen Alten an den Baum, mit dem Kopf nach unten. Da sind wir abgehauen. Teufel, sind wir gerannt. Irgendwo unterwegs haben wir Andreas verloren. Er muß ganz allein auf dem Friedhof herumgeirrt sein, völlig durcheinander. Klar, daß er abgedreht ist.«
»Wie viele waren es?«
»Weiß nicht. Es kam mir so vor, als wären sie überall. Wie ein Gleiten nur. Eine – Gegenwart.«
»Eine Gegenwart?«
»Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Ja, verdammt, eine gleitende Gegenwart. Mindestens fünf, glaube ich, auf jeden Fall.«
»Was meinst du mit mager?«
»Das Gegenteil von dir, Scheißbulle.«
Gunnar Nyberg betrachtete verwundert seinen gerade erst schlank getrimmten Körper. Konnte man ihn wirklich immer noch fett nennen?
»Klein also? Waren es kleine Wesen?«
»Nein, nicht direkt. Ich weiß nicht. Mager, dünn. Als ob sie sich einfach von den Bäumen ablösten. Rindenstreifen.«
»Rindenstreifen?«
»Hör doch mal auf, nur alles zu wiederholen, was man sagt. Verdammt, wir sind abgehauen, so schnell wir konnten. Wir glaubten, daß sie hinter uns herkämen, wie Gestalten aus der Mythologie, verdammich.«
»Gestalten aus der Mythologie?«
»Jetzt machst du es schon wieder«, sagte Reine Sandberg gekränkt.
Gunnar Nyberg dachte nach. Gestalten aus der Mythologie? Gab es nicht eine Person, an die er sich damit wenden konnte – jetzt, wo Arto nicht da war? Doch, es gab eine.
»Ich muß mal telefonieren«, sagte er. »Danach nehme ich dich fest und bringe dich zur Wache wegen Schändung jüdischer Gräber. Darum sollst du nicht herumkommen. Vielleicht kann deine Zeugenaussage als strafmildernder Umstand gewertet werden, was weiß ich.«
Dann telefonierte Gunnar Nyberg.
»Paul Hjelm«, sagte es am anderen Ende.
»Paul, hier ist Gunnar.«
»Servus, Gunnar. Na, kommst du voran mit den Skinheads?«
»Das kann man vielleicht so sagen. Ich habe gerade mit einem gesprochen, der behauptet, sie hätten eine Art ›gleitender Gegenwart‹ zwischen den Grabsteinen gesehen.
Mindestens fünf schwarzgekleidete, magere Wesen, die er als ›Gestalten aus der Mythologie‹ bezeichnete. Vielleicht ist das was für dich, alter Bücherwurm.«
»Sag das aber nicht heute abend zu deinem ›date‹.«
»Es heißt nicht ›date‹. Und was weißt du überhaupt davon?«
»Oh, das ganze Polizeipräsidium weiß davon. Wir werden mit Spruchbändern am Nebentisch sitzen.«
Gunnar Nyberg verfluchte die Erfindung des Mobiltelefons und betätigte die rote Taste. Dann rief er Sara Svenhagen zurück. Sie hatte lange genug gewartet.
»Ein Gespräch, hast du gesagt«, meckerte Reine Sandberg hinter ihm.
Paul Hjelm hockte in seinem Zimmer im Polizeipräsidium und war inzwischen überzeugt davon, daß er Hämorrhoiden hatte. Er saß ja eigentlich nur noch.
Durch den Raum strömten die Klänge von Miles Davis’ Kind of Blue. Es war mittlerweile mehr eine Fixierung als ein Genuß. Ein natürliches Bedürfnis.
Einen Moment betrachtete er das Handy, als habe es vollkommen unbekannte Lautwellen ausgestrahlt. Etwas begann zusammenzuwachsen. Wundränder schlossen sich.
Den geschlagenen Tag hatte er mit der Liste der Telefonate verbracht, die in vier Zimmern im Norrboda-Motel geführt worden waren, ausgegangene wie eingegangene Anrufe. Nach mehreren Stunden trostlosen Suchens sagte es auf einmal klick. Eine neue Telefonnummer erweckte seine Aufmerksamkeit.
Seit Montag, dem vierundzwanzigsten April, waren auf sämtlichen vier Telefonen Gespräche von ein und demselben Zimmer im Grand Hôtel in Stockholm eingegangen, Raum 305. Die Gespräche
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