Tiefer Schmerz
genommen haben. Von Schweden nach Polen verkehrten die Fähren Nynäshamn – Gdansk, Karlskrona – Gdynia und Ystad – Swinoujscie. Außerdem gab es noch die Fähre zwischen Kopenhagen und Swinoujscie. Sie war dabei gewesen, alternative Routen auszurechnen, als Jorge anrief. Die Öresund-Brücke würde erst in zwei Monaten eröffnet werden, doch es gab natürlich keinen Hinderungsgrund, über Dänemark zu fahren, sei es via Göteborg – Fredrikshavn, Helsingborg – Helsing0r oder Malmö – Kopenhagen. Ebenso konnte man mit der Fähre leicht nach Deutschland gelangen, unter anderem von Ystad und Trelleborg nach Saßnitz oder Rostock. Und warum nicht Göteborg – Kiel? Die Alptraumroute war Helsingborg – Helsing ø r und dann Rødby – Puttgarden. Da wurde nirgendwo etwas registriert; in allen übrigen Fällen sollte es möglich sein, einen Bus mit mindestens acht Frauen aufzuspüren.
Die meisten dieser alternativen Routen waren in fünfunddreißig Stunden ohne Schwierigkeiten zu bewältigen. Im schlimmsten Fall alle. Jetzt mußten nur die Fahrpläne durchgesehen werden. Eine ziemlich trostlose Tabellenschreiberei lag vor ihr.
Also hatte sie nichts dagegen, sich zuerst einmal Jorges Sonderauftrag vorzunehmen. Mann ohne Nase. Während ihrer ziemlich aufreibenden Zeit in der Abteilung für Pädophilie am Reichskrim, die immer noch von einem unbeeindruckten Partypolizisten namens Kommissar Ragnar Hellberg geleitet wurde, hatte sie sich eine ungewöhnliche Geschicklichkeit im Umgang mit Computern und Datenverarbeitung angeeignet. Es war also ein leichtes für sie, aus dem Verbrechensregister den fast zwanzig Jahre zurückliegenden Fall herauszusuchen.
Ein John Doe, will sagen ein unidentifizierter Mann von gut vierzig Jahren, war am Mittwoch, dem 9. September 1981 nackt im Wald neben dem kleinen Badesee Strålsjön in Lovisedal in Älta, südöstlich von Stockholm, gefunden worden. Der Tod infolge zweier tiefer Messerstiche mußte, wie die Obduktion ergeben hatte, im Laufe des Montags, also des 7. Septembers, eingetreten sein. Der Fundort war nicht identisch mit dem Tatort, soviel war klar. Die Leiche war also dorthin transportiert worden, höchstwahrscheinlich mit einem Wagen. Der Mann war schwarzhaarig und, den Aufzeichnungen des Gerichtsmediziners Sigvard Qvarfordt zufolge, ›stark behaart‹. Das auffälligste Merkmal war die fehlende Nase. Qvarfordt weiter: ›Auch das Nasenbein fehlt, und außer einer äußerst entstellenden Narbe ist nichts übrig. Die relative Ebenheit der Narbenoberfläche läßt darauf schließen, daß die Nase chirurgisch entfernt, möglicherweise abgesägt wurde.‹ Außerdem war der Mann beschnitten und trug am Arm eine Tätowierung ›vom Konzentrationslagertyp, aber mit unlesbaren Ziffern, als habe er versucht, diese mit einem Messer oder ähnlichem Gegenstand eigenhändig zu entfernen‹. Deshalb hatte die Jüdische Gemeinde in Stockholm es übernommen, den Toten zu begraben. Fotos und Fingerabdrücke waren an Interpol geschickt worden, doch ohne Ergebnis. Der Fall, unterzeichnet Erik Bruun, war noch ungelöst.
Sara speicherte die Information und ging davon aus, daß es sich um Jorges ›Shtayf‹ handelte. Dann wandte sie sich wieder dem Fährverkehr zu.
Wenn ich mit einem Bus von Stockholm in die Ukraine will, fahre ich dann wirklich über Dänemark oder Deutschland? Fahre ich nicht trotz allem direkt von Schweden nach Polen? Das war zunächst einmal eine sinnvolle Vorauswahl. Und dann eher Gdynia oder Gdansk, nicht Swinoujscie, das ein bißchen abseits in der Pommerschen Bucht lag, gleich an der deutschen Grenze. Von den Zwillingsstädten Gdynia und Gdansk lief die E 77 geradewegs hinunter nach Warschau, von wo aus die E 372 über Lublin in die Ukraine führte. Die Logik sagte einem weiter, daß dann in erster Linie Nynäshamn in Frage kam, von wo aus die Reederei Polska Zegluga Baltycka, die sich inzwischen etwas peppiger Polferries nannte, nach Gdansk fuhr. In zweiter Linie würde man die Stena Line von Karlskrona nach Gdynia wählen. Sara begann in Nynäshamn. Eines der beiden Schiffe der Polferries, die M/S Rogalin oder die M/S Nieborow, ging am Donnerstag, dem 4. Mai, um 17.00 Uhr ab und war am Freitag um 11 Uhr 30 in Gdansk. Fragte sich, ob man bis 14 Uhr 55, als das Gespräch am Odenplan ankam, von Gdansk nach Lublin fahren konnte. Das mußte sie ausrechnen. Die Stena Line ihrerseits hatte die M/S Stena Europe, die um 21.00 Uhr am Abend Karlskrona verließ und um
Weitere Kostenlose Bücher