Tiefer Schmerz
war. Professionalismus oder – Haß? Oder sowohl als auch? Waren nicht doch ziemlich starke Gefühle in Wallung? Das war sein Eindruck. Es wurden nicht allein Botschaften geschickt, da war noch etwas anderes, das tiefer ging.
Dann die Fahrt in die Ukraine. ›Alle gut durch‹. Zwar eine Rekonstruktion dieser Slawistin auf einer ziemlich wackeligen Grundlage, aber immerhin. Wenn man das allerletzte glauben sollte, aus dem Mund eines Skinheads, dann handelte es sich um eine Bande, nicht um einen allein agierenden Mörder. Diese Bande transportiert also mindestens acht Prostituierte durch Europa. Ist so etwas durchführbar, wenn man sie kidnappt und mit Gewalt zwingt? ›Alle gut durch‹. Klang das nicht eher – fürsorglich? Ein Verbrechersyndikat hätte die Frauen wie eine Handelsware behandelt. Hätte man sich dann so ausgedrückt? ›Alle gut durch‹. Ein bißchen vage, natürlich, aber eine Ahnung. Witterung. So etwas durfte nicht verlorengehen. Außerdem handelt es sich also um ein Gespräch von Frau zu Frau. ›Kein Kerl, so weit das Auge reichte‹, wie die alte Maja draußen bei der Kate auf Dalarö gesagt hatte. ›Alle gut durch‹. Aspekt vier: das Weibliche.
Und dann der fünfte Aspekt. Der bereits von Nikos Voultsos’ wahnsinniger Flucht in Djurgården angedeutet wurde. Die blinde Panik. Er schoß wild um sich, zerschnitt sich beim Klettern die Hände, warf die Pistole weg und riß sich seine dicke Goldkette vom Hals, sein Herrscherzeichen. Die gleiche Panik hatte eine Bande grabschändender Skinheads in Rekordzeit quer über Skogskyrkogården gehetzt. Außer einem, der in dem Inferno zurückblieb und in der Psychiatrie landete. Eine dunkle, gleitende Gegenwart von etwas zwischen den Grabsteinen, das einen geläuterten Skinhead von ›Gestalten aus der Mythologie‹ sprechen ließ.
Paul Hjelm saß reglos. Etwas rief nach ihm. Etwas begann zusammenzuwachsen. Wundränder schlossen sich langsam. All die verschiedenen Sprachen, die sich durch diesen Fall zogen … Es war wie der Turmbau zu Babel. Gott, der sagt: ›Wohlauf, laßt uns hernieder fahren und ihre Sprache daselbst verwirren, daß keiner des andern Sprache vernehme!‹ Der europäische Sprachenreichtum. ›Alle gut durch‹ auf ukrainisch. ›Shtayf‹ auf jiddisch. ›Ghiottone‹ auf italienisch, ›Wolverine‹ auf englisch. Und – ›Epivu‹ auf …
Verflucht. Da stand nicht ›Epivu‹.
Hjelm klickte wie wild zwischen den Dateien hin und her. Die Datei mit den Fotos des Falles. Das Vielfraßgehege. Die verstreuten Textilfasern. Der Beinstumpf mit dem Kreuzknoten. Da. Die Buchstaben in der Erde. ›Epivu‹. Er vergrößerte das Bild. Es bedeckte den ganzen Bildschirm. Er vergrößerte noch weiter, fixierte den letzten Buchstaben: ›u‹. Noch größer. War da nicht so etwas wie ein Komma über und unter dem ›u‹? Natürlich war es das.
Und es war kein ›u‹. Es war ein ›Ypsilon‹. Das heißt, ungefähr ›i‹.
Und eine genauere Betrachtung des mittleren Buchstabens ergab, daß auf dem ›i‹ kein Punkt war.
Natürlich war es Griechisch.
Nikos Voultsos war so griechisch wie nur möglich.
Das bedeutete, daß ›p‹ nicht ›p‹ war, sondern ›ro‹, das heißt ›r‹. Und ›v‹ war nicht ›v‹, sondern ›ny‹, also ›n‹.
Nicht ›Epivu‹, sondern › Epivû‹, was in etwa ›Erini‹ ausgesprochen wurde, mit Betonung auf der letzten Silbe. Und es war mit aller Sicherheit ein Wort.
Paul Hjelm meinte sogar, es zu kennen.
Er ging ins Internet und fand ein griechisches Lexikon. Kein Resultat. Mist. Da fiel ihm ein, daß es mehrere Versionen des Griechischen gab. Das Neugriechische hatte erstaunlich wenig mit dem Altgriechischen zu tun. Und hier dürfte es sich also um Altgriechisch handeln. Die ursprüngliche Sprache. Nach einiger Mühe fand er auf einer amerikanischen wissenschaftlichen Seite mit Namen Perseus ein altgriechisches Lexikon. Er tippte es ein. Und bekam Antwort.
Es waren die Erinnyen.
Ihm fiel wieder ein, woher er das Wort kannte. Er war im Rahmen des allerersten Falles der A-Gruppe darauf gestoßen. Ein junger Mann namens Gusten Bergström war davon überzeugt, daß seine Schwester, die nach einem Vergewaltigungsversuch Selbstmord begangen hatte, sich von jenseits des Grabes mit Hilfe der antiken Rachegöttinnen, der Erinnyen, rächte.
Die Erinnyen waren die furchterregendsten Urzeitgestalten der Antike. Sie kamen aus dem Totenreich und nahmen Rache für begangenes Unrecht. Um das
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