Tiefschlag
zu Francos Haus gebracht worden, als er elf war. Er hat in einem Kinderheim gelebt und glaubt, über einen Zeitraum von zwei Jahren etwa einmal monatlich zu Partys in Francos Haus gefahren worden zu sein.»
«Von einem Angehörigen des Personals?»
«Vom stellvertretenden Heimleiter.»
«Mein Gott.»
«Das ist noch nicht alles», sagte Marie. «Er sagt, er wäre nicht der einzige gewesen. Er kennt andere, die an andere Orte verfrachtet wurden. Doc hat die Sexpartys organisiert. Häufig dauerten sie die ganze Nacht. Bei Tagesanbruch wurden die Kinder dann zurück ins Heim gefahren. Sie schliefen an ihren Schulbänken ein.»
«Und Mama?»
«Francos Mutter. Sie hing auch mit drin. Ich gehe bei dieser Sache bewußt langsam vor, Sam. Ich will ganz sichergehen, daß wir sie drankriegen.»
«Laß dir soviel Zeit, wie du willst», sagte er. «Ich will genauso sehr wie du, daß ihnen ein für alle Male das Handwerk gelegt wird.»
Einige Minuten hörten sie dann schweigend Almost Blue zu. Marie schenkte Sam ein großes Glas Cola Light ein und reichte es ihm.
Er trank drei Zentimeter ab und schaute zu, wie sie ihren gâteau inhalierte. «Was ist mit dir?» fragte er.
Marie lachte leise. «Ich wußte, daß du das fragen würdest. Mir geht’s wieder gut, Sam. Besonders seit ich mit diesen Kids arbeite. Ich habe keine Freßorgie mehr veranstaltet. Der Brie, den du da ißt... diesmal habe ich nur ein Viertel gekauft, und seit drei Uhr habe ich auch kein Mars mehr angesehen. Ich habe die Kontrolle über alles, was in mir verschwindet.»
«Und wenn du die Ermittlungen abgeschlossen hast? Wenn Doc und Mama ins Gefängnis gehen und die Kids in ihre eigenen Leben verschwinden? Was passiert dann?»
«Ich weiß es nicht», sagte sie. «Damit befasse ich mich, wenn’s soweit ist. Ich werde es mit dir besprechen. Ich habe auch noch andere Freunde. Geordie und Celia. Ich werde mit meiner Therapeutin reden. Im Moment baue ich mir eine Art schützende Gegenwart auf. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich keine Angst vor der Zukunft. Was immer passiert, ich glaube, ich werde damit fertig.»
Ja, sie hat recht, dachte Sam, als er zu Fuß zu Celias Haus zurückkehrte. Sie wird sich über sich selbst klar. Sie wird mit allem fertig werden. Vielleicht ist sie am Ende sogar glücklich.
Vielleicht würde sich auch Sam Turner über sich selbst klar. Das Schicksal hatte ihn all seiner materiellen Besitztümer beraubt. Geblieben war nur noch er selbst. Also sollte er an sich arbeiten. Leute hatten Sam sein ganzes Leben lang gesagt, er sei ein leistungsorientierter Mensch. Jemand, der aus Mangel an einer intensiven persönlichen Beziehung bis zum Äußersten ging.
Sam wußte, daß es die Wahrheit war. Auf der ganzen Welt, seiner gesamten Erfahrung nach, war Donna der einzige Mensch, der in der Lage gewesen war, ihn zu bremsen. Seit ihrem Tod war sein Leben ein einziger Marathonlauf gewesen.
Es hatte intensive persönliche Beziehungen gegeben. Zu viele, um sie zu zählen. Zu viele, um sich an sie zu erinnern. Frauen kamen und gingen...
Sie gingen, weil Sam auch in Beziehungen leistungsorientiert blieb. Er war der starke Mann. Woran immer es der Beziehung fehlte, er würde es liefern. Keiner wußte besser als er, daß man so nicht die Liebe eines anderen Menschen gewinnen konnte. Vielleicht wurde man deshalb respektiert, vielleicht wurde man deshalb auch abgelehnt. Vielleicht gewann man dafür Ehrfurcht, aber geliebt wurde man deshalb nicht.
Geliebt wurde man wegen einer Mischung aus persönlichen Stärken und Schwächen. Menschen lieben weder einen Archetyp noch ein Klischee. Sie lieben ein menschliches Wesen, einen Haufen Widersprüche, jemanden, den sie niemals finden können, weil dieser jemand sich ständig verändert und in jemand anderen verwandelt. «Ja, das ist es», sagte er sich und nahm sich vor, daran zu denken, wenn er das nächste Mal eine Frau kennenlernte.
Dann vergaß er es wieder.
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