Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tiefschlag

Tiefschlag

Titel: Tiefschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Baker
Vom Netzwerk:
lächelte, und Sam antwortete mit einem Lächeln und Kopfnicken. «Und sie hören mir zu, nehmen mir einen Teil der Last. Nicht alles. Es ist meine Last, und ich muß sie tragen.
    Aber das alles bewirkt, daß ich langsam manches anders sehe. Ich denke sogar anders an meinen Vater. Ich empfinde so etwas wie Liebe für ihn, auch Mitleid, denn auch er hat sich geschämt. Oh, ich werde nicht soweit gehen und sagen, daß ich ihm verzeihe oder daß er nicht dafür verantwortlich war. Er war dafür verantwortlich. Er hat mich verletzt.
    Aber weil meine Therapeutin allen Geschichten zuhört und nicht aufsteht und einfach geht und weil sich mein Freund Sam Turner das alles anhört und zurückkommt, um mehr zu hören, muß ich erkennen, daß ich in einer Hinsicht geliebt werde. Und wenn mich diese anderen Menschen, die nicht ich sind, lieben, dann müßte ich mich doch eigentlich auch lieben können.»
    Sam kratzte sich am Kinn.
    «Das bedeutet, du hast eine Frage», sagte Marie. «Wenn du dir das Kinn kratzt.»
    Er grinste. «Ich bin leicht zu durchschauen, was?»
    Marie nickte.
    «Du hast mal erzählt, dein Vater hätte Selbstmord begangen. Hätte den Kopf aufs Eisenbahngleis gelegt. Aber früher hast du immer erzählt, er sei an Krebs gestorben...» Sam ließ seine Worte verklingen. Er hatte sie eigentlich fragen wollen, welche Geschichte denn nun die Wahrheit war, aber indem er die Frage stellte, wurde die Antwort offensichtlich.
    «Ja, er hat sich umgebracht», sagte sie.
    Ehe er ging, blieb Sam noch mit Marie vor der Tür stehen und fragte: «Empfindest du noch etwas für deinen Vater?»
    Sie dachte einige Zeit darüber nach, bevor sie antwortete: «Da ist das, was ich heute abend gesagt habe, dieses Gefühl von Mitleid. In letzter Zeit kam da noch ein anderer Gedanke. Was zwischen uns passiert ist, war auf eine Weise einzigartig. Ausbeuterisch, sicher; geheimnistuerisch und traumatisch, letztlich schädigend und gewalttätig. Es hat mein ganzes Leben gezeichnet, unser aller Leben. Versteh mich nicht falsch, ich wünschte, das alles wäre nie passiert. Aber zwischen ihm und mir... meinem Vater und mir... Ich frage mich, ob es eine Liebschaft war.» Sie starrte ins Nichts.
     
    Sam ging zum Volvo, schloß die Tür auf und rutschte hinter das Steuer. Kramte in seiner Tasche nach einer Zigarette, erinnerte sich, daß er auch das aufgegeben hatte. Durch die Windschutzscheibe beobachtete er, wie der Fluß mit den reflektierten Lichtern der Stadt spielte. Dicht an den Ufern hatte sich eine dünne Eisschicht gebildet.
    Er dachte an das Gesicht auf dem Video und daß die Dinge niemals ganz genau so waren, wie man es vermutete. Während er sich an das Bild des Gesichts erinnerte, diesen starren, leeren Blick, das viehische Gesicht, der einfältige Kopf, hörte er Maries Gedanken über ihren Vater. Nachdem er ein Leben lang immer und immer wieder herausgefunden hatte, daß es nicht so war, ertappte er sich doch immer wieder dabei, zu diesen Vorstellungswelten der Kindheit zurückzukehren. Maries Vater besaß auch keine entfernte Ähnlichkeit mit dem Gesicht auf dem Video. Sam hatte Fotos von Stanley gesehen, und er war ein großer, schlanker, gutaussehender Mann gewesen. Sicher, er war ein Freak, er besaß eine häßliche Seele. Aber wenn man ihm auf der Straße begegnete, würde man das nicht erkennen. Wenn man ihn auf einer Party kennenlernte, würde man niemals erraten, was er in seiner Freizeit trieb.
    Ebenso mußte dann aber auch das Gesicht auf dem Video nicht unbedingt einem Dämon gehören. Nur weil es rein äußerlich abstoßend und dumpf wirkte. Wegen des idiotischen Gesichtsausdrucks gab es einen Imperativ, es zu verdammen, den Menschen dahinter.
    Er beschwor es wieder herauf. Hielt es vor sich auf der Windschutzscheibe. Das erstarrte Grinsen, wie eine Maske. Der riesige Mund, ständig geöffnet, auf eine Fliege wartend. Sam hatte Geordie auf eine Tour durch die Fitneßcenter geschickt, aber jetzt kam ihm in den Sinn, daß es durchaus zweckmäßig gewesen wäre, die psychiatrischen Kliniken zu überprüfen. Jemand, der so auffällig aussah, mußte bekannt sein. Er war kein zweiter Stanley. Er war eine Klasse für sich. Wenn man auf der Straße jemanden wie diesen Burschen auf sich zukommen sah, dann wechselte man automatisch auf die andere Seite.
    Das Bild auf der Windschutzscheibe veränderte sich leicht.
    Es war wie eine Werbung, die Sam im Fernsehen gesehen hatte, eine Technik, die sie manchmal benutzten, bei der

Weitere Kostenlose Bücher