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Tiefschlag

Tiefschlag

Titel: Tiefschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Baker
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klar?»
    Marie lächelte. «Wegen meiner eigenen Vergangenheit? Man könnte sagen, ich bringe gewisse Qualifikationen mit.» Sie stellte Teller und Messer auf den Tisch. «Der Belgier. Der diese Kinder in einem Verlies gehalten hat. Wie hieß der noch schnell?»
    «Marc Dutroux. In seinem Garten stand eine Statue vom Jesuskind.»
    «Ja, Dutroux. Als ich davon gelesen habe, von den Sachen, die er gemacht hat, konnte ich die ganze Nacht nicht schlafen. Ich saß wach im Bett und mußte an diese armen Kinder denken. Wenn ich so was höre, dann denke ich, daß ich noch verdammt viel Glück hatte.»
    «Er war nicht allein», sagte Sam. «Er hat’s zu seinem Beruf gemacht. Und es gibt andere wie ihn. Die UNICEF geht davon aus, daß der Kinderhandel das drittlukrativste illegale Gewerbe ist. Drogen, Waffen und Kids. In dieser Reihenfolge. Pädophilie ist ein Geschäft, in dem Millionen stecken.»
    «Ein Teil von mir würde lieber an Drogenfällen arbeiten, oder an einem Waffenfall, an irgendwas. An einem ganz normalen Mord. Aber es ist kein Zufall, daß sich diese Sache gerade jetzt ergibt. Wo soll ich anfangen?»
    Sam zuckte die Achseln. «Wo immer. Fang mit den Streunern an. Sprich mit ihnen. Versuch dein Glück bei den Strichern. Folge einfach deinem Riecher.»
    Sie bat ihn, sich an den Tisch zu setzen, und servierte einen überquellenden Korb voller Sesambrötchen. «Das hier hab ich auch gemacht», sagte sie und stellte eine Schüssel Pazifiklachspastete auf den Tisch.
    «Hmmmh, toll», sagte Sam und biß in ein Brötchen. «Aber du hättest dir nicht soviel Mühe machen sollen.»
    Marie zuckte die Achseln. «Dann bin ich wenigstens beschäftigt. Wenn ich Mehl siebe und Gemüse schneide, schnippel ich nicht an mir rum.»
    «Wie geht’s dir, Marie? Damit meine ich nicht deine Schnippeleien, ich meine insgesamt. Seit Gus’ Tod? Wie kommst du zurecht?»
    «Stimmt», sagte sie. «Wir haben mal ständig darüber geredet.» Sie lächelte. «Ich hab’s verarbeitet. Ich habe heute alles vergessen, die Stufen, die man angeblich alle durchmacht. Trauer. Verlust, Wut, das alles. Ich habe mich damit abgefunden. Ich werde ihn nicht Wiedersehen. Manchmal, ab und zu, kommt diese nüchterne Tatsache wie ein gigantischer Knüppel durch die Nacht auf mich zugerast. Aber meistens akzeptiere ich es.»
    «Ich vermisse ihn auch», sagte Sam. «Genauso. Monatelang kommt’s mir nicht in den Sinn, aber wenn’s dann kommt, ist’s wie ein Schlag ins Gesicht.»
    Schweigend saßen sie da. Sam nahm sich noch ein Brötchen. Marie aß drei. «Tote hinterlassen Löcher», sagte er schließlich.
    «Ich versuche immer noch, meinen Vater loszuwerden», sagte Marie. «Und meine Mutter.» Sie holte tief Luft. «Er hieß Stanley. Mein Vater. Als ich anfing, an mir herumzuschneiden, habe ich dazu ein Stanleymesser benutzt. Ich hab’s damals Klein-Stanley genannt. Hab’s mir in den Mund gesteckt. Ich habe die Klinge gelutscht, zuerst noch, ohne mich zu schneiden. Mehrere Minuten, bevor ich anfing, das Messer zu drehen. Am Ende mußte ich wegen dem Blut würgen. Dann habe ich aufgehört.»
    «Der Anfang», sagte er, «wenn du die Klinge zwar im Mund, aber dich noch nicht verletzt hattest. Bevor du richtig losgelegt hast. Das ist genau wie sich einen Drink bestellen. Ich habe das manchmal so gemacht, genau, wie du es beschrieben hast. Ich bestellte mir eine Ladung, stellte das Glas auf die Theke und sah es an. Ich konnte eine Stunde davor sitzen. Dann weg mit dem Zeug, und zwanzig weitere in den nächsten zwei Stunden.»
    Sie lächelte ihn an. «Wir hätten uns früher kennenlernen sollen.»
    «Warst du noch mal bei deiner Therapeutin?»
    «Ja. Wir arbeiten jetzt an der Scham.»
    «Ja, das kenne ich auch», sagte Sam. «Bei AA-Treffen reden die Leute dauernd darüber.»
    Sie griff nach einem weiteren Brötchen, überlegte es sich jedoch anders. «Es ist nicht leicht. Irgendwie kennen alle Frauen Scham. Sich zu schämen und Frau zu sein scheint manchmal wie ein- und dasselbe. Ich fange an zu verstehen, daß ich nicht nur aus Scham bestehe. Und je mehr ich das verstehe, es besser kennenlerne, wird es mir möglich, mich damit auseinanderzusetzen. Was wir hoffen — was ich hoffe —, ist, daß ich es besiegen werde. Die Scham hinter mir lasse.
    Im Moment bin ich dabei, meine Beschämung aufzuarbeiten. Ich zwinge mich, alles noch einmal zu durchleben. Ich rede mit meiner Therapeutin darüber. Ich lasse meinen guten Freund Sam Turner daran teilhaben.» Sie

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