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Tierarzt

Tierarzt

Titel: Tierarzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Herriot
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und hielt erschreckt die Luft an. Der Kopf des Lammes ragte aus der Vagina heraus und war zu mehr als seiner doppelten Größe angeschwollen. Die Augen wirkten wie aufgeblähte Schlitze, und die Zunge hing dem Tierchen blau und auf getrieben aus dem Maul.
    »Ich hab ja schon einige große Köpfe gesehn, Rob, aber dieser hier, glaube ich, übersteigt alles bisher Dagewesene.«
    »Ja, das Kerlchen ist mit den Beinen nach hinten gekommen. Ich weiß, man muß sie rumbringen, aber mit solchen Flossen wie den meinen ist da nichts zu machen.« Er hielt mir seine riesigen Hände hin, die von den Jahren der Arbeit rauh und geschwollen waren.
    Während er sprach, zog ich mir meine Jacke aus, und als ich die Ärmel meines Hemdes hochkrempelte, traf der Wind wie ein Messer auf meine bloße Haut. Ich seifte mir rasch meine Rechte ein und begann, um den Hals des Lammes herum nach einem Zwischenraum zu suchen. Eine Sekunde lang öffneten sich die kleinen Augen und sahen mich tieftraurig an.
    »Auf jeden Fall lebt es«, sagte ich. »Aber ihm muß schrecklich zumute sein, und es kann doch nicht das geringste dagegen tun.«
    Behutsam tastete ich am Hals entlang und fand schließlich vorn an der Kehle einen Zwischenraum, wo ich durchzukommen hoffte. Bei solchen Gelegenheiten kam mir meine ›kleine Frauenhand‹ zugute, und ich segnete sie jedes Frühjahr von neuem; ich konnte im Inneren der Muttertiere arbeiten, ohne ihnen viel Unbehagen zu verursachen, und das war von größter Wichtigkeit: durch das Leben im Freien sind Schafe zwar sehr widerstandsfähige Tiere, aber sie wollen zart angefaßt werden.
    Mit größter Vorsicht drang ich Zoll für Zoll an der lockigen Halswolle entlang bis zur Schulter vor, dann ein kleiner Schubs nach vorn, und ich konnte einen Finger um das Bein legen und behutsam daran ziehen, bis ich die Beugung des Knies fühlte; noch eine leichte Drehung, dann hatte ich den winzigen Fuß in der Hand und zog ihn sanft ans Tageslicht.
    Damit war die Hälfte der Arbeit getan. Ich erhob mich von dem Sack, auf dem ich gekniet hatte, und ging zu dem Eimer mit warmem Wasser. Für das andere Bein wollte ich die linke Hand gebrauchen und seifte sie deshalb gründlich ein; eines der Mutterschafe, das seine Lämmer ehrfurchtsvoll umstanden, starrte mich dabei ungehalten an und stampfte warnend mit dem Fuß.
    Ich kniete mich wieder hin, um die gleiche Prozedur noch einmal zu wiederholen, da schlüpfte plötzlich ein winziges Lämmchen unter meinem Arm hindurch und fing am Euter meiner Patientin an zu saugen. Und nach dem kleinen Schwänzchen zu schließen, das da dicht vor mir herumwirbelte, genoß es seine Mahlzeit in vollen Zügen.
    »Wo kommt denn dieser kleine Bursche her?« fragte ich, ohne meine Arbeit zu unterbrechen.
    Der Bauer lächelte. »Oh, das ist Herbert. Ein armer kleiner Kerl – seine Mutter will partout nichts von ihm wissen. Hat ihn vom ersten Augenblick an nicht gemocht, sondern kümmert sich nur um ihr anderes Lamm.«
    »Ziehen Sie ihn mit der Flasche auf?«
    »Nein, denn ich seh, daß er sich allein durchzuschlagen versteht. Flitzt von einem Mutterschaf zum andern und holt sich, sooft es geht, rasch ’n Schluck. Ich habe so etwas noch nicht erlebt.«
    »Erst eine Woche alt und schon ein unabhängiger Geist, was?«
    »Ja, Sie haben ganz recht, Jim. Da ich morgens sehe, daß sein Bauch voll ist, nehme ich an, seine Mutter läßt ihn während der Nacht doch mal trinken. Im Dunkeln kann sie ihn ja nicht sehen – und es scheint mit seinem Aussehen zu tun zu haben, weshalb sie ihn ablehnt.«
    Ich beobachtete das kleine Geschöpf einen Augenblick. Für mich hatte es genausoviel X-beinigen Charme wie jedes andere. Schafe waren seltsame Wesen.
    Bald hatte ich auch das zweite Bein draußen, und nachdem dieses Hindernis beseitigt war, folgte rasch das ganze Lamm. Es bot einen grotesken Anblick, wie es da auf dem Stroh lag; sein riesiger Kopf ließ den Körper winzig erscheinen, aber seine Flanken hoben und senkten sich beruhigend, und ich wußte, daß der Kopf ebenso schnell wieder zu seiner normalen Größe zusammenschrumpfen würde, wie er angeschwollen war. Ich tastete das Mutterschaf innerlich noch einmal ab, aber der Uterus war leer.
    »Mehr ist nicht, Rob«, sagte ich.
    »Dacht ich mir fast«, brummte der Bauer, »nur ein einziges großes Lamm. Aber die machen immer die meisten Schwierigkeiten.«
    Während ich mir Hände und Arme abtrocknete, beobachtete ich Herbert. Er hatte meine Patientin verlassen, als

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