Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger
Gefangenschaft, wird er nur ungefähr so groß wie das Terrarium. Sein Körper weiß von selbst, dass er sonst zu groß für seine Umgebung werden würde. Aber er ist glücklich so, siehst du, mit dem kleinen Bach und dem Holz, auf dem er sitzt. Er wird nicht viel größer, als er jetzt ist. Es sei denn, ich hole ein größeres Terrarium.«
»Und, machst du’s?« Ich schaute in Peters lächelndes Gesicht. »Ein größeres Terrarium holen?«
»Irgendwann vielleicht. Aber ich mag ihn in dieser Größe. Willst du mal was sehen, was ganz Tolles?«
»Ja!«
Peter steckte die Hand in den Glaskasten, und Mommy und ich hielten die Luft an. Er jedoch lächelte standhaft, stupste den kleinen Alligator an, und ich traute mich, näher heranzutreten und mir den weichen, weißen, geäderten Bauch und die kurzen Stummelbeine anzusehen, die das Tier wie in einer Geste völliger Unterwerfung in die Luft streckte, dazu das sonderbare Gesicht mit der Schnauze, die aussah, als würde sie selig lächeln, aber dabei winzigste dreieckige Zähne entblößte. Obwohl sie so klein waren, musste man fürchten, sie könnten wehtun, und mein Herz raste aus Angst um Peters Hand. Ich dachte an die Bücher, die ich mir ausgeliehen hatte, an die Tiger und anderen Raubkatzen, von denen ich gelesen hatte, für mich ein unglaublich faszinierendes Thema. Angeblich konnten Krokodile, die sich im schlammigen Wasser versteckten, plötzlich hervorspringen, einen saufenden Tiger am Hals packen und die Wildkatze mit ihren kleinen bösen Zähnen ins Wasser ziehen, die sie ins dicke orangefarbene Fell gruben, auch wenn der Tiger versuchte, sich mit den Hinterläufen am Ufer festzukrallen.
Doch Peter streichelte dem Kaiman den Bauch, und die blassen, klaren Reptilienaugen weiteten sich. Zum Staunen von Mommy und mir schlossen sich die Augen bald, und Peter sagte flüsternd: »Jetzt schläft er.« Ich flüsterte zurück: »Ich dachte, er würde dich beißen. Ich hatte Angst.«
»Alle Tiere werden gerne am Bauch gestreichelt. Es gibt keine Ausnahmen.«
»Wie heißt er?«
»Wächter.«
»So sieht er auch aus«, bemerkte Mommy. »Ich meine, wenn er nicht schläft. Peter, woher nehmen Sie die Zeit, sich um all diese Tiere zu kümmern?«
Peter zündete sich eine King 100 an. Ich wusste, dass sich meine Mutter Sorgen machte, wenn ich passiv mitrauchte, doch sie sagte nichts. »Ich bekomme Invalidenrente. Meine Aufgabe ist es, mich um dieses Haus zu kümmern, denn wie Sie sehen, geht immer etwas kaputt, und ich bin ausgebildeter Schreiner, deshalb weiß ich, wie man so was repariert.« Er blies Qualmringe aus, und ich steckte den Finger hindurch und kicherte, wenn die Ringe sich auflösten.
»Wissen Sie, im Koreakrieg habe ich als Schreiner für die Armee gearbeitet. Irgendwann fuhr ich im Regen einen Hügel runter, und ein Lkw rutschte von hinten auf mich drauf. Es endete mit einer steifen Wirbelsäule. Manchmal muss ich ein Korsett tragen, aber ich lass mich davon nicht runterziehen. Ich beschäftige mich. Werkel am Haus herum und kümmere mich um die Tiere. Sonst würde ich mich ganz schön langweilen. Aber in diesem Haus gibt es immer was zu tun.« Er hielt inne. »Wisst ihr, wie alt dieses Haus ist?«
»Nein, wie alt denn?«, fragte Mommy. Ich zog mit den Fingern Kreise auf der Terrariumscheibe des schlafenden Kaimans.
»Über hundert Jahre. Dieses Haus wurde während des Bürgerkriegs gebaut, es ist eines der ältesten Gebäude in Weehawken. Inès hat es von ihrem Mann geerbt. Er kam bei einem Autounfall ums Leben, als ihre Kinder noch in die Windeln machten.«
Meine Mutter riss die Augen auf. »Wussten Sie, dass täglich über hundert Menschen bei Autounfällen sterben? Deshalb sage ich Margaux immer, dass sie sich anschnallen soll. Mein Mann tut es nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Das muss erschütternd für sie gewesen sein. So was kann ich mir nicht mal ansatzweise vorstellen.«
Peter nickte. »Es war allerdings traumatisch für Inès. Jedenfalls brauchten Miguel und Ricky dringend einen Vater, und Inès – ich weiß nicht, ob sie das alles geschafft hätte, wenn ihr nicht jemand mit dem Haus geholfen hätte. Wirklich, es ist in einem Zustand des ständigen – ach, wie sagt man noch mal? Es fällt auseinander. Inès arbeitet beim Pennysaver , stellt dort die Kleinanzeigen zusammen und so weiter. Irgendwann hat sie auch eine für sich selbst aufgegeben, aber es gab eine Verwechslung, die Anzeige sollte eigentlich nicht an dem Tag gedruckt
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