Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger
deutlichen Spur seiner stillen Wünsche: Vanilleeis mit Orangenüberzug, wie ein Junge ohne Oberteil herumlaufen, sich von einer niedlichen rosa Hundezunge durchs Gesicht lecken lassen und einem Kaninchen zusehen, das frisches Grün mümmelt. Später lernte Peter gewissenhaft die Texte von Madonna auswendig und wusste die Titel von zwanzig Nirvana -Liedern.
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Als ich vier Monate nach Peters Tod eine Justizvollzugsbeamtin namens Olivia für einen Artikel meiner Collegezeitschrift in ihrer Wohnung, einem Einzimmerapartment in der Nähe des Journal Square im Zentrum von Jersey City, interviewte, und wir Kamillentee tranken und zu plaudern begannen, erwähnte ich, dass ich an einem Buch schreiben würde. Sie wollte wissen, wovon es handelte, und ich erklärte, es gehe darin um einen Pädophilen. Aber es sei nur der erste Entwurf, die Rohfassung. Dann fragte ich die Beamtin, ob sie in ihrem Beruf mit Pädophilen zu tun habe.
»Mit Pädophilen? Klar. Das sind die nettesten Insassen.«
»Nett?«
»Ja. Nett, höflich, machen keinen Ärger. Sprechen einen immer mit ›Miss‹ an, antworten freundlich mit ›Ja, Ma’am‹ oder ›Nein, Ma’am‹.«
Angesichts dieser Gelassenheit von Olivia spürte ich den Drang, weiterzureden.
»Ich habe gelesen, dass Pädophile ihre Taten vor sich selbst rechtfertigen, indem sie sich einreden, alles fände in gegenseitigem Einvernehmen statt, obwohl sie ja in Wirklichkeit Zwang ausüben.« Ich hatte das in meinem Lehrbuch der klinischen Psychologie gelesen, und es hatte mich erschüttert, weil es so exakt Peters Denkweise widerspiegelte. Die nächste Erkenntnis stammte jedoch aus keinem Buch, auch wenn ich das behauptete: »Ich habe auch gelesen, dass es für ein Kind wie ein Drogenrausch sein kann, mit einem Pädophilen zusammen zu sein. Ein Mädchen hat einmal gesagt, es wäre, als würde der Pädophile in einer Zauberwelt leben, und diese Magie würde alles überlagern. Es sei so, als ob der Erwachsene selbst ein Kind wäre, nur dass er ein Wissen besitzt, das Kindern nicht zur Verfügung steht. Pädophile Menschen haben mehr Fantasie als Kinder, deshalb können sie Welten erschaffen, die Kinder nicht einmal erträumen können. Sie haben die Gabe, die wirklich existierende Welt für das Kind irgendwie ekstatisch zu überhöhen. Und wenn das dann vorbei ist, also wenn die Welt wieder normal wird, ist das für einen Menschen, der so etwas erlebt hat, wie ein Heroinentzug. Jahrelang ersehnt er das vertraute Gefühl zurück. Ein Mädchen sagte, es sei so, als wäre die Erde verbrannt und kein Gras würde mehr wachsen. Der Boden sei schwarz und öde, doch tief im Innern würde es noch brennen.«
»Wie traurig«, sagte Olivia und sah so aus, als meinte sie es auch.
Nach einer unbehaglichen Gesprächspause kamen wir auf andere Insassentypen und die allgemeinen Erfahrungen im Strafvollzug zu sprechen. Während des Interviews wurde mir allmählich übel, ich fühlte mich von der Umgebung bedroht, von der warmen Küche, die anfangs so einladend gewirkt hatte. Meine Wahrnehmung war schon immer verstörend scharf, eine Folge der vielen Jahre ohne soziale Kontakte zu der Welt außerhalb der einen, die ich mit Peter teilte.
An jenem Tag in Olivias Küche fühlte ich mich, als sei etwas in mir aufs Äußerste gespannt, als sei die Welt auf höchste Lautstärke gestellt worden und brülle mich an.
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Ich wuchs auf in Union City, New Jersey, angeblich die am dichtesten bevölkerte Stadt der USA. Man kann sie sich nicht richtig vorstellen, es reicht nicht, nur von den schalen, harten Frühstücksbrötchen, den puppentassengroßen Espressobechern oder den langen teigig-süßen Churros zu reden, genauso wenig wie Sie ein Gefühl für Manhattan bekommen, wenn Ihnen jemand nur vom Schisch-Kebab-Stand bei der Port Authority, dem Strand Book Store mit seinen kilometerlangen Bücherregalen oder von den Skateboardern im Washington Square Park erzählt.
Man kann versuchen, sich die Tauben, Bars und Night-Clubs (geschrieben »Nite-Clubs«) von Union City vorzustellen, die jungen »Hoods«, deren um die Knie schlackernde Baggy-Hosen den Blick auf ihre Boxershorts freigeben, man kann sich ein Bild von den Stoßstange an Stoßstange geparkten Autos machen, von der schon absonderlichen Enge mancher Gassen, wo gerne mal der Außenspiegel von einem vorbeifahrenden Lkw abgebrochen wird. Man hört die Zischlaute von Männern jeglichen Alters beim Anblick jedes weiblichen Wesens über zwölf Jahren, man
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