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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kilian Leypold
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fröstelte. Hier in der Röhre war es kühl.
     Ohne Tante Tigers Wärme hätte Jonas gefroren. Er spürte einen Lufthauch auf seinem Gesicht. Aus der Tiefe der Röhre strich
     die kühle Luft in Richtung Ausgang. Zu hören waren nur die Atemzüge: schnell und hastig Lippe, tief und gleichmäßig Tante
     Tiger.
    Plötzlich glommen links neben Jonas’ Kopf zwei grüne Lichter auf, groß wie Mantelknöpfe. Wie alle Katzenaugen reflektierten
     Tante Tigers Augen selbst die geringsten Spuren von Licht. Also musste doch etwas Helligkeit vom Eingang bis hierher dringen;
     es war aber so wenig, dass Jonas nur die grünlich glimmenden Augen sah. ›Ich könnte jetzt überall sein‹, dachte er. Der Ort,
     an dem sie sich befanden, löste sich in der Dunkelheit auf. Nur Lippe, der Tiger und er selbst, Jonas, blieben übrig – und
     Tante Tigers |127| Stimme: »Alles ist auf einmal anders als früher, als ich …«, sie stockte kurz, »als ich noch auf zwei Beinen gegangen bin.«
    Das mühsame Krächzen, unterbrochen von unverständlichen Grolllauten, war verschwunden. Tante Tiger sprach inzwischen mit einer
     dunklen, etwas rauen Stimme, so tief, dass Jonas die Vibrationen bis in seine Eingeweide spürte.
    »Richtig wach werde ich jetzt in der Nacht. Und auch erst, wenn ich hinausgehe und herumstreune. Alles ist so nah. Ich hab
     die Erde immer direkt vor der Nase und direkt unter meinem Bauch. Ich muss nur in die Knie gehen und schon spüre ich den Boden.
     Das ist ein gutes Gefühl, so, so, hrrrmmm … Nichts kann mich umwerfen. Versteht ihr? Vor Kurzem waren meine Beine noch zwei
     morsche Stecken, und jetzt sind sie wie Stahlfedern. Das ist doch verrückt!« Tante Tiger kam in Fahrt. Trotzdem sprach sie
     gedämpft, so, als ob sie gleichzeitig lauschen würde. »Aber nicht nur der Boden ist näher, alles strömt auf mich ein. Überall
     höre ich etwas krabbeln und kriechen. Ihr glaubt nicht, wie viele kleine Tiere sich nachts herumtreiben. Millionen! In jedem
     Stück Holz, in jedem Erdhaufen wispert und knackt es. Und überall Gerüche. Nach Hunden, Katzen, Kaninchen, Amseln. Sogar nach
     Regenwürmern und Käfern. Alle haben ihren eigenen Geruch. Auch die Menschen. Und viele von ihnen verströmen einen säuerlichen
     Gestank!«
    »Äh, wir auch?«, fragte Lippes Stimme rechts von Jonas.
    |128| »Nein«, kam es warm und dunkel von links. Dann hörte Jonas ein Schnüffeln. »Ihr riecht nach, hm, ja … nach Freunden.«
    In der Stille atmete Lippe hörbar aus.
    »Wenn ich mich herauswage«, sprach Tante Tiger weiter, »stehe ich nur da, lausche und schnuppere in die Nacht. Und weiß sofort,
     wo die Arbeiter ihr Wasser abgeschlagen haben, weil sie zu faul waren, aufs Klo zu gehen. Und manche Gerüche verwirren mich
     … Kranke Bäume riechen anders als gesunde. Habt ihr das gewusst? Und liebestolle Maulwürfe duften nach Marzipan. Wie soll
     da ein altes Weib nicht durcheinanderkommen? Und erst meine Augen …« Tante Tiger machte eine kleine Pause und Jonas spürte
     ihren Blick. »Noch in der finstersten Nacht kann ich alles erkennen, zwar nur dunkelgrau, aber ich sehe alles … Zum Glück
     hab ich bis jetzt noch keine Maus gesehen. Davor graut mir fürchterlich! Die Biester sind überall. Ich höre sie schaben und
     kratzen. Einmal bin ich so erschrocken, dass ich mit einem Riesensatz fast in einer Mülltonne gelandet wäre. Ich kann sogar
     hören, wie sie miteinander piepsen. Da schüttelt es mich am ganzen Leib. Diese fürchterlichen Biester!«
    Jonas stellte sich Tante Tiger auf einem Küchentisch kauernd vor, während unter dem Tisch eine Maus seelenruhig ein paar Brotkrümmel
     fraß.
    »Aber jetzt seh ich sie wenigstens, sobald sie auch nur ihre schnüffelnden Schnauzen aus irgendeinem Loch stecken. Ich sehe
     Bewegungen, die ich früher, selbst als ich noch keine Brille hatte, nie gesehen |129| hätte. Jonas, du hast jetzt gerade mit dem rechten Fuß gezuckt, und du, Philipp, hast geschluckt.«
    »Kein Wunder«, keuchte Lippe, »ich schluck die ganze Zeit, mir ist das nämlich unheimlich hier … Im Dunkeln mit einem Tiger!
     Können Sie nicht mal dieses grünliche Augenglitzern runterdrehen, das … das macht einen nervös, und wenn ich nervös werde,
     schwitz ich, und wenn ich schwitze, macht mich das noch nervöser …«
    »Schweiß riecht meistens sauer oder süß«, unterbrach ihn Tante Tiger.
    Jonas fiel auf, dass sie sich zum ersten Mal nicht entschuldigte für die Furcht, die sie auslöste; sie

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