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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kilian Leypold
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vielleicht noch Hunger? Hier sind noch Hühnerschenkel und Koteletts,
     alles Mögliche …«
    »Setz dich«, brummte Tante Tiger. »Du brauchst wirklich keine Angst zu haben. Ich bin und bleib ein altes Weib, trotz der
     Zähne und Klauen, und alte Weiber fressen nur im Märchen Kinder. Und an dir ist sowieso nichts dran.«
    |123| Jonas lachte, Lippe stöhnte auf und ließ sich neben Jonas fallen.
    »Tiger können unberechenbar sein, Nase. Du bist zu leichtgläubig«, flüsterte er.
    Jonas antwortete nicht. Er sog den Geruch des Tigerfells ein. Es roch wie eine sehr würzige Suppe. Die Haare um ihn herum
     waren kurz und dicht, weniger weich und flauschig, sondern kräftig, fast wie bei einem Besen.
    »Sitzt ihr bequem?«, fragte Tante Tiger und wandte ihnen ihr zottiges Haupt zu.
    Jonas und Lippe rutschten noch etwas enger aneinander und nickten. Plötzlich riss Tante Tiger das Maul auf. Sie gähnte. Trotz
     der höflich vorgehaltenen Pranke sah Jonas die vier Reißzähne wie Dolche aus ihrem Kiefer ragen; dazwischen lag eine lange
     rote Zunge. Lippe konnte ein ängstliches Japsen nicht unterdrücken.
    »Entschuldigt bitte, ich bin noch etwas müde. Wisst ihr, ich schlafe jetzt immer tagsüber. Erst abends, kurz bevor ihr kommt,
     werde ich wieder munter. Und wenn ihr dann gegangen seid, überkommt mich eine eigenartige Unruhe. Ich kann nicht mehr sitzen
     bleiben, laufe in diesem Betonschlauch auf und ab, lausche auf jedes Geräusch. Zuerst hab ich gedacht, es ist die Angst vor
     der Finsternis, oder die Angst, allein zu sein; denn außer euch bekomme ich hier ja niemanden zu Gesicht und jeder andere
     würde wahrscheinlich Reißaus nehmen … Nach ein paar Nächten hab ich aber gemerkt, dass es etwas anderes ist: Ich will |124| raus. Ich will mich bewegen. Herumstreifen. Ein richtiger Drang. So ein Bedürfnis habe ich noch nie gehabt. Ich will einfach
     hinaus, ohne Grund, ohne ein Ziel. Und die Unruhe wird jeden Abend stärker. Und meine Finger haben zu jucken angefangen …«
    Tante Tiger stockte, stieß einen kurzen Knurrlaut aus, sprach dann leiser weiter: »Finger hab ich ja nicht mehr … Krallen.
     Die Krallen jucken und ich musste etwas kratzen. Habt ihr schon mal versucht, eine Betonröhre zu kratzen?« Tante Tiger blinzelte.
     »Das ist kein Vergnügen. Also bin ich zum ersten Mal raus, nachts, und hab mich auf einen der Holzbalken gestürzt, die da
     liegen.«
    »Tante Tiger!«, rief Jonas. »Das geht nicht, wenn jemand die Kratzer sieht …«
    »Ich bin zwar alt, aber nicht verkalkt. Ich hab den Balken hier in die Röhre gezerrt. Noch ein Stück tiefer drinnen liegt
     er.«
    Jonas bekam eine Gänsehaut; er wusste, wie groß und schwer die Balken waren, die draußen herumlagen; keinen Zentimeter hätte
     er mit Lippe so einen Balken bewegen können. »Ganz allein?«, fragte Jonas ungläubig.
    »Jaaaaaaah«, sagte Tante Tiger gedehnt. Fast sah es aus, als würde sie grinsen. »Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie schön
     es ist, wieder Kraft zu haben. Mehr Kraft, als ich je hatte. Manchmal bekomme ich selbst Angst vor mir.« Sie kniff die Augen
     zusammen. »Das Licht blendet. Könntest du das vielleicht ausdrehen?«
    »Ähm, also«, begann Lippe, »also, ich meine, man |125| versteht sich viel besser, wenn man den anderen nicht nur hört, sondern auch sieht; wenn alle Menschen sich immer sehen würden,
     gäbe es bestimmt weniger Streit …«
    »Bitte«, sagte Tante Tiger. »Sei so gut.«
    Jonas verstand Lippe genau: Im Finstern zwischen den Pranken eines Tigers zu sitzen, war keine schöne Vorstellung. Es war
     eben eine Frage des Vertrauens. »Wir sind zwei gegen eine«, flüsterte er seinem Freund zu. Es ist viel leichter, mutig zu
     sein, dachte er dabei, wenn man jemanden bei sich hat, der ängstlich ist. Lippe sah ihn mit großen Augen an. ›Oh Schreck,
     oh Graus!‹, sagte sein Blick. Jonas legte ihm den Arm um die Schulter, und Lippe drehte die Lampe vor seiner Stirn aus.

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    |126| Geschichten aus dem Dunkel
    Mit einem Schlag war es finster. Außer weißen Kringeln, die vor seinen Augen tanzten, sah Jonas nichts mehr. Er spürte, wie
     Lippe neben ihm zitterte und wie sich der Tigerleib in seinem Rücken gleichmäßig hob und senkte. Das war beruhigend und Jonas
     ließ auch den Kopf in das Fell sinken. Der Tiger roch nach Rauch und Pfeffer, und in Jonas’ Kopf entstand allmählich das Bild
     einer tiefverschneiten Landschaft, aus der ein paar niedrige Nadelbäume ragen. Er

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