Tiger Unter Der Stadt
versuchte auch nicht,
Lippe zu beruhigen.
»Hunde zum Beispiel, die sich fürchten, stinken süßlich, wie ranzige Butter. Die Bauarbeiter draußen riechen sauer. Dein Schweiß
duftet nach Bananen. Ein wenig süß und ein wenig sauer. Durchaus angenehm.«
»Bananen?«, stammelte Philipp. »Mögen Sie Bananen?«
»Hab ich noch nie gemocht, fremdländisches Zeug. Als ich Kind war, gab’s das nicht, wächst ja nicht mal hier.«
»Treffen Sie sich mit Hunden?«, fragte Jonas, um das Thema zu wechseln.
»Wir bemerken uns. Meistens wittern sie mich zuerst. Dann hör ich sie winseln. Sie riechen mich, wissen aber nicht genau,
wo ich bin, wissen nicht einmal, was ich bin. Sie ahnen nur, dass ich groß und stark bin. Und gefährlich …«
|130| Ein grollendes Kichern rollte durch die Röhre.
»Und die Menschen?«, fragte Lippe.
»Menschen«, schnaubte Tante Tiger, »sehen nur, was sie kennen. Selbst wenn ich direkt neben ihnen im Gebüsch hocke und ihre
Köter verrückt spielen, merken sie nichts.«
»Tun Ihnen die Hunde nicht leid? Sie haben doch selbst einen«, fragte Jonas.
»Hatte!«
, fauchte Tante Tiger gereizt. »Er ist weg!«
Jonas verkniff sich die Bemerkung, dass Herr Teichmann ja wieder auftauchen könnte.
»Ich kenn doch die meisten dieser Köter«, fuhr sie etwas ruhiger fort. »Alle haben sie Herrn Teichmann Angst eingejagt. So
ein kleiner Schreck tut denen gar nichts. Ich bin ja friedlich. Nur manchmal knurre ich ganz tief. Das mögen sie nicht. Etwa
so.«
Jonas spürte das Knurren mehr, als dass er es hörte. Alles in ihm bebte. Sein Herz schlug schneller und schneller.
»Aufhören!«, schrie Lippe. »Das ist ja Folter.«
»So schlimm?« Jonas hörte den Stolz in Tante Tigers Stimme.
»Tante Tiger«, sagte er leise, »wir haben Herrn Teichmann auch mal erschreckt. Mit einem ferngesteuerten Auto.«
»Bist du blöd, Mann?!« Lippe rammte Jonas seinen Ellbogen in die Seite.
In der Röhre war es jetzt vollkommen still und schwarz. Nur die grünen Augen leuchteten in der Dunkelheit.
|131| »Das war schrecklich«, krächzte es nach einer Ewigkeit aus der Dunkelheit. »Und wenn ich nicht in einem Tiger stecken würde,
wäre es jetzt Zeit für zwei Ohrfeigen.«
»Tut uns leid. Wirklich. Ehrlich«, quatschte Lippe drauflos, »und wenn wir Ihren Hund besser gekannt und gewusst hätten, was
für eine feine, empfindsame Seele in so einem kleinen Hund stecken kann, wir hätten nie …«
»Ihr hättet es trotzdem gemacht, Philipp.« Tante Tigers Stimme klang bissig. »Weil wir leichte Beute waren: die verrückte
Alte und ihr ängstliches Hündchen.«
Jonas schämte sich. »Aber jetzt ist es anders. Wir kennen Sie, und wir mögen Sie.«
»Ich kenn mich ja nicht mal selbst, und was ihr mögt, das ist das Vieh, in dem ich stecke«, knurrte der Tiger. »Die komische
Alte mit dem Hündchen würdet ihr ärgern. Weil es Spaß macht.«
Die Dunkelheit, fand Jonas, veränderte die Stimmen. Es waren nicht mehr nur Töne, die durch die Röhre hallten, sondern sie
nahmen Gestalt an. Tante Tigers Stimme war ein Hüne mit langen Armen und großem Kopf, den sie aber im Moment hängen ließ.
»Was machen Sie denn noch, wenn Sie draußen unterwegs sind – außer Hunde erschrecken?«, fragte Jonas. Er wollte über etwas
anderes reden.
»Am liebsten bin ich im Wald«, sagte Tante Tiger nach einer Weile. »Auch wenn es nur ein paar erbärmliche Kiefern sind. Trotzdem,
dort gibt es keine |132| Straßenbeleuchtung und keine Autos. Nach den Mäusen sind die Autos nämlich das Schlimmste, was sich nachts herumtreibt. Was
für ein Gestank! Und der Motorenlärm ist schier nicht auszuhalten.« Die grün leuchtenden Punkte verschwanden plötzlich. Tante
Tiger musste die Augen geschlossen haben. »Zwischen den Bäumen ist es anders. Es rauscht, raschelt, knackst um mich herum.
Und ich sauge den Geruch der Kiefern ein. Das Harz, es duftet so …«
Tante Tiger verstummte, und Jonas versuchte sich vorzustellen, wie der riesige Tiger zwischen den mickrigen Kieferstämmen
umherstrich … Seine Gedanken wurden von einem lauten Sägen unterbrochen, das in gleichmäßigen Stößen kam. Das Geräusch entstand
immer dann, wenn Tante Tiger ausatmete. Sie schnurrte. Nicht so wie die Katze seiner Oma, bei der das Schnurren ein ununterbrochener
Laut war, der beim Ein- und Ausatmen entstand, aber trotzdem: Der Tiger schnurrte. Plötzlich brach das Geräusch ab.
»Ach, das passiert mir jetzt
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