Tiger Unter Der Stadt
denn werden?‹, denkt der Fisch, und im nächsten
Moment zappelt er schon am Haken.
»Kümmere dich lieber um deine Schafe«, sagte Jonas, um von Tante Tiger abzulenken.
»Meine Schafe gehen wenigstens nicht nachts auf der Straße rum und erschrecken Menschen«, sagte Bschu und sah Jonas mit schiefem
Grinsen an. Jonas schüttelte den Kopf und ging los.
Bschu fuhr langsam neben ihm her, Büm rollte an seine andere Seite.
»Gestern Nacht nämlich hat ein Cousin von mir in der Nähe der Baustelle sein Auto sauber gemacht«, sagte Bschu. »Mit lauter
Musik, ist klar. Der braucht immer extralaute Sachen. Da spürt er, wie eine Riesenhand auf seine Schulter klopft. Er schaut
und sieht einen Tiger sitzen. Ein Riesentiger. ›Mach den scheußlichen Lärm leiser‹, sagt der Tiger, und mein |117| Cousin fällt auf die Knie und bettelt um Gnade. Da hat ihn der Tiger nicht gefressen, sondern im Kofferraum seines Autos eingesperrt.
Da haben sie ihn dann am nächsten Tag gefunden.«
Jonas wurde blass. Büm prustete lauthals los und auch Bschu konnte sich nicht mehr beherrschen. »Hat er wirklich erzählt«,
sagte sie, als sie wieder sprechen konnte, und Büm flüsterte Jonas im Wegfahren zu: »Der Cousin ist dumm und meistens trinkt
er zu viel Raki. Alle glauben, dass er besoffen war, und lachen über ihn.« Sie machte eine kleine Pause. »Tschüss, Nase.«
Sie sah ihn noch einmal an, ohne zu kichern, und fuhr dann um die nächste Ecke, hinter der Bschu schon verschwunden war.
›Blöde Hühner‹, dachte Jonas, musste aber den Rest des Weges an Büms Augen denken: ein violettes Braun, wie dicker Kakao,
überschattet von langen geschwungenen Wimpern.
Am Rand der Baugrube traf er Lippe mit dem Fleisch.
»Der Schlittenfahrer ist gerade gegangen«, rief ihm Lippe entgegen. »Wir können los.« Auf dem Weg zur Tigerröhre erzählte
ihm Jonas die Geschichte vom Cousin im Kofferraum.
»Vielleicht haben sie dir was auf die Nase gebunden«, sagte Lippe. »Das passiert Nasen leider alle naselang.«
»Und Lippen riskieren immer wieder eine dicke Lippe«, sagte Jonas und deutete eine rechte Gerade |118| an, war aber froh, dass Lippe die Sache nicht so ernst nahm; vielleicht war wirklich nichts passiert.
Sie hoben den grünen Plastikvorhang zur Seite und betraten die Röhre.
Ein eigentümlicher Lärm war zu hören. Es klang wie das langgezogene Quietschen einer riesigen Tür. Lippe schaltete seine Stirnlampe
ein und vorsichtig schlichen sie weiter. Der Lärm wurde immer lauter. Jonas konnte jetzt an- und abschwellende Schreie unterscheiden.
Endlich tauchte Tante Tiger aus dem Dunkel auf.
Geduckt saß sie am Boden der Röhre, den Hals lang gestreckt, den Kopf nach oben gebogen. Aus dem halb geöffneten Tigermaul
kamen die eigenartigen Schreie. Als der Schein von Lippes Lampe auf sie fiel, verstummte sie und starrte zu Jonas und Lippe,
die auf dem Sims über ihr standen. In der Dunkelheit der Röhre hatten sich die Pupillen geweitet und die Tigeraugen waren
fast schwarz, nur umgeben von einem schmalen gelben Ring.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte Jonas.
»Ja«, kam es vom Boden der Röhre, »ich habe nur ein bisschen gesungen.«
»Klang wie das Heulen von einem Gespenst mit Zahnschmerzen«, sagte Jonas.
»Tatsächlich? Dann hat es vielleicht auch diese kleinen Biester verscheucht.«
»Was für Biester?«
»Mäuse!«, rief Tante Tiger. Dann sprang sie zu Jonas und Lippe auf das Sims und schnupperte an der Plastiktüte, |119| die beide zusammen trugen, weil sie so schwer war.
»Oooaarr … Rindfleisch, ausgezeichnet.« Sie nahm die Tüte zwischen die Zähne und trug sie wie ein federleichtes Kissen in
ihre Nische. Jonas folgte ihr, und Lippe folgte Jonas.
Mit den Krallen schlitzte Tante Tiger die Tüte auf und schnüffelte an den abgepackten Fleischstücken. Sie zog ein großes T-Bone-Steak
zu sich und machte sich darüber her. Jonas erzählte inzwischen von seinem heutigen Besuch in ihrer Wohnung. Von den Blumen
am Balkon, der Post im Briefkasten, schließlich von seiner Begegnung mit Büm und Bschu. Und von dem Cousin, der überzeugt
war, ein Tiger hätte ihm auf die Schulter geklopft.
Tante Tiger gab nur Kau- und Schmatzgeräusche von sich; sie zerbiss gerade einen dicken Knorpel. Irgendwann hielt es Jonas
nicht mehr aus: »Waren Sie das?«
»Na ja«, kam es zwischen zwei Schmatzlauten. »Es war eine so grässliche Musik. Und laut, das könnt ihr euch gar nicht
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