Tigerlilie - Paul, I: Tigerlilie
gemeinsam in dem Doppelbett nächtigen. Anna bezweifelte, dass Christopher etwas anderes akzeptieren würde. Es machte sie nervös, daran zu denken, wie es wäre, mit ihm einzuschlafen und neben ihm wieder zu erwachen. In den Gasthäusern hatten sie getrennte Schlafräume mieten können, etwas, das für die Oberschicht nicht ungewöhnlich war.
Sie lenkte ihre Füße in das Wäldchen. Coinneach hatte von einem kristallklaren See gesprochen, gleich hinter den Bäumen. Das weiche Moos gab federnd unter ihren Tritten nach. Der Geruch nach Harz und wilden Blumen lag in der Luft. Unter den Bäumen war es schattig und kühl, und Anna schlang fröstelnd die Arme um ihren Körper.
Jetzt, zum ersten Mal seit ihrer Abreise aus London für sich, konnte sie ungestört über alles nachdenken. Sie hatte bereits gegen so viele moralische Regeln verstoßen, dass sie für immer geächtet werden würde, käme auch nur ein Bruchteil ihrer Verfehlungen ans Tageslicht.
Ein Schaudern kroch ihren Rücken hoch. Sie beschleunigte ihre Schritte, als könne sie damit vor ihren Gedanken fliehen.
Anna erreichte das Ende des Wäldchens und sah den See vor sich, den der Schotte gepriesen hatte. Sie trat näher und konnte den großen, flach gewaschenen Steinen am Ufer nicht widerstehen. Anna kletterte auf den größten und hüpfte dann auf den nächsten. Sie schwankte, fand ihr Gleichgewicht und sprang zum benachbarten. Das Sonnenlicht wurde golden von der Seeoberfläche zurückgeworfen. Anna lachte.
Sie hatte schon Ewigkeiten nichts Übermütiges mehr gewagt. Mit Christopher war alles anders geworden. Ihn störte es nicht, ob sie ohne Anstandsdame vor seiner Tür stand und gegen eine der unzähligen Benimmregeln verstieß. In seiner Gesellschaft zu sein war entspannend.
Gerade fand sie die richtige Technik, um sicher über die glitschigen Steine zu hüpfen, als Christopher sie rief. Sie drehte sich um, verlor das Gleichgewicht, rutschte aus und stürzte mit lautem Platschen ins Wasser.
Prustend kam sie nach oben und zappelte hilflos. Sie konnte nicht schwimmen. Panik erfasste sie. Sie keuchte und spie Seewasser aus. Eine Hand packte sie und zog sie aus dem See.
„Anna!“ Christopher umarmte sie fest. „Alles in Ordnung?“
„Pass auf, du wirst auch nass“, murmelte Anna verstört.
Hatte er ihr kindisches Herumalbern etwa gesehen? Sie fühlte, wie Schamesröte in ihre Wangen schoss.
Er musterte sie besorgt. „Was kümmert mich ein bisschen Feuchtigkeit, aber du bist hineingefallen. Deine Haut ist eiskalt!“ Er schlüpfte aus seinem Frack und legte ihn Anna um die Schulter. „Schnell, du brauchst trockene Kleider!“
Anna zog ein langes Baumwollnachthemd und auf Drängen Christophers seine wollenen Kniestrümpfe und seinen dicken Morgenmantel an. Christopher entzündete währenddessen ein Feuer im Kamin und machte Wasser im Kessel heiß.
„Möchtest du deinen Tee stark und süß?“, fragte er, während er Tee in die Kanne gab.
„Stark und süß“, bestätigte Anna, trat näher, setzte sich an den Tisch und beobachtete, wie Christopher einen großzügigen Schuss Whisky in eine der bereitstehenden Tassen goss.
Er schob ihr die Tasse zu. „Hier, trink! Das wird dich von innen wärmen.“
Misstrauisch beäugte Anna das Getränk, ehe sie danach griff und einen großen Schluck davon nahm. Sie hatte das Gefühl, zu ersticken. Beißende Schärfe flutete ihren Mundraum und brannte sich den Weg hinunter in den Magen. Sie hustete mit Tränen in den Augen.
Christopher beobachtete sie amüsiert. „Eine Jungfrau in jeder Hinsicht“, spöttelte er.
Sobald Anna wieder sehen konnte und Herrin über ihre Stimmbänder war, hob sie ihre Tasse und prostete ihm zu. Diesmal trank sie vorsichtiger. Sie räusperte sich. Ein raues Gefühl breitete sich in ihrer Kehle aus. Der Alkohol stieg ihr bereits zu Kopf, aber die versprochene Wärme wurde spürbar.
Christopher schenkte ihr Tee ein. „Wir wollen nicht, dass dein erster Kontakt mit Whisky gleich mit einem Kater am nächsten Morgen bestraft wird.“
Um Anna herum begann alles zu schwanken. Unauffällig hielt sie sich an der Tischplatte fest.
Christopher bestrich Brotscheiben dick mit Butter und schob Anna einen Holzteller mit dem Brot zu. „Hier, iss das, damit du mir nicht vom Stuhl rutschst.“ Seine Augen funkelten amüsiert.
Gehorsam aß Anna. Als sie den letzten Bissen hinunterschluckte, blickte sie zu Christopher, der ihr gegenübersaß, das Kinn auf seine Hände
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