Tigerlilie - Paul, I: Tigerlilie
bei Mr. Drysdale geschehen?“
Sie warf Anna einen kurzen Blick zu. „Mr. Drysdale sein laoye , tun mit chen , was beliebt. Können töten chen .“
„ Chen ? Was heißt das nun wieder?“
„ Chen sein Ding, Bao sein laoyes chen .“
Ein Schauer lief Anna über den Rücken. Was für ein Mensch tat einer Frau eine solche Abscheulichkeit an? War Christopher grausam genug, eine andere Person zu verletzen? Zu verstümmeln?
Sie knetete ihre Hände. Auf was hatte sie sich nur eingelassen? Es war die eine Sache, sämtliche Hemmungen fallen zu lassen und niederen Gelüsten nachzugeben. Eine ganz andere jedoch, sich freiwillig in die Gewalt eines Monsters in Menschengestalt zu begeben. Kälte kroch ihren Nacken hinunter, schlängelte sich ihr Rückgrat entlang bis zu den Kniekehlen.
Bao verbeugte sich und ließ Anna allein zurück.
Langsam schritt Anna zum Bett und setzte sich an den Rand. Ihre Beine fühlten sich steif und ungelenk an. Die Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen, halfen kein bisschen dabei, sie zu beruhigen. Sie kaute auf ihrer Unterlippe. Hatte sie Bao falsch verstanden? Die Chinesin sprach und verstand nur bedingt Englisch.
So musste es sein – ein Missverständnis! Sie konnte nicht glauben, dass Christopher über derartige Grausamkeit verfügte. Sicher, er war arrogant und besaß eine gewisse Rücksichtslosigkeit, doch man hätte ihr Tratsch zugetragen, der Christopher Brutalität gegenüber Dienstboten und Frauen zuschrieb.
Dennoch blieben Zweifel zurück. Ihre erotischen Begegnungen waren stets von Wildheit geprägt, doch Anna selbst forderte und genoss es, wenn Christopher sie härter anpackte. Das eine oder andere Mal war er sanft und zärtlich gewesen, und obwohl einem Teil von ihr diese Arten der Berührungen unsagbares Vergnügen bereiteten, weckten sie doch ihren Fluchttrieb.
Und auch darauf ging er ein. Er hatte nie etwas getan, was Anna nicht selbst wünschte. Es war, als erahne er ihre Sehnsüchte und Bedürfnisse.
War dies das Verhalten eines Mannes, der seine Dienerin aufs Schlimmste misshandelte?
Sie seufzte und sah auf ihre Truhen und Koffer, die man aus dem Haus ihrer Eltern hergebracht hatte. Ein leises Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. Caítlín trat ein, schloss die Tür und stemmte ihre Hände in die Hüften.
„Miss Anna“, schnaubte sie und wurde im nächsten Moment kurz und fest von Anna umarmt.
„Caítlín, welch eine Freude, dich hier zu sehen.“
Die irische Bedienstete erwiderte die Umarmung mit Herzlichkeit.
„Glaubt Ihr, ich ließe Euch allein in diesem seltsamen Haushalt? Kommt nicht infrage! Als Eure Mutter im Sterben lag, bat sie mich, immer ein Auge auf Euch zu haben, Miss Anna. Ich musste es auf die Bibel schwören!“ Caítlín hob ihr Kreuz an die Lippen. Sie musterte Anna durchdringend. „Geht es Euch auch gut, Miss Anna? Seid Ihr freiwillig hier?“
„Aber natürlich, Caítlín.“ Anna lächelte aufmunternd. „Welchen Posten geben wir dir hier? Soweit ich das mitbekommen habe, erfüllt Long Tian die Aufgaben eines Butlers.“
Caítlín bekreuzigte sich. „Dieser schlitzäugige Wilde, nicht wahr? Laut Mr. Drysdale soll ich Eure Zofe sein, Miss Anna.“
Anna schmunzelte. „Wunderbar! Dann lass uns gleich damit anfangen, die Truhen und Koffer auszupacken.“
Caítlín nickte und machte sich über die erste Truhe her. Anna packte derweil die Toilettenartikel aus. Es gab einen großen Schminktisch und etlichen Schubladen. Im Spiegel sah sie die breite Bettstatt mit der aufwendig bestickten Seidendecke und dem passenden Baldachin. Das Muster der Tagesdecke wiederholte sich auf der Waschschüssel und dem Krug. Jedes Detail in dem Raum war exklusiv und doch geschmackvoll.
Erst jetzt entdeckte sie hinter dem Bett eine Tür. Anna erhob sich und trat näher.
„Das ist die Verbindungstür“, erklärte Caítlín.
„Die was?“ Anna blinzelte. Natürlich, sie galt als verheiratete Frau, und die Zimmer von Ehepaaren besaßen eine Verbindungstüre, durch die der Ehegatte nach Belieben eintreten konnte.
Sie fand keinen Schlüssel. Selbstverständlich nicht. Anna drehte sich abrupt um. Sie wollte absperren können. Sie brauchte einen Schlüssel. Sofort!
„Ich muss zu Kit … zu Mr. Drysdale!“
Irritiert sah Christopher von den Geschäftspapieren auf, als die Tür zum Arbeitszimmer aufgerissen wurde.
Anna stand im Raum. Ihre Augen schleuderten Blitze. Einige Haarlocken hatten sich gelöst und umrahmten das
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