Tigerlilie - Paul, I: Tigerlilie
Halbweltdamen auf ihre männlichen Gönner angewiesen waren.
Ihre Mutter hatte Anna von klein auf eingebläut, dass man mit Freundlichkeit und Güte seine Ziele schneller und leichter erreichte als mit Zorn.
„Und warum erzählt mir das niemand?“ Solange er seine Konkubinen nicht aufsuchte, konnte sie damit leben, die Frauen im Haus zu haben. Sie selbst verstieß so oft gegen Konventionen, dass es auf ein paar Vorzeige-Konkubinen nicht mehr ankam.
„Drysdale- laoye hielt es für angebracht, Euch selbst davon zu erzählen. Er ahnte nicht, dass Ihr Lian bereits vorher begegnen würdet.“
„Sucht er die Konkubinen auf?“
Long Tian wirkte gehetzt. „Ich bin nicht der richtige Ansprechpartner für …“
„Ich will eine Antwort! Jetzt!“
„Nein. Er suchte die Konkubinen auch zuvor nur selten in ihren Betten auf, doch seit seiner Rückkehr hat er jegliches Interesse an ihnen verloren.“
Anna nickte. „Danke, Long Tian.“ Sie deutete ihm mit einer Handbewegung, dass er gehen konnte.
Sie wandte sich ihrem Essen zu und rührte gedankenverloren in der Schüssel.
Vom praktischen Standpunkt her gesehen, war es ungleich günstiger, die Halbweltdamen im selben Haus zu haben. Es ersparte Wege und die Kosten für mehrere Wohnstätten. Kopfschüttelnd überlegte Anna, wie entsetzt ihre Eltern von der ganzen Angelegenheit wären.
Ob die Konkubinen ebenfalls allein aßen?
Anna hasste es, ständig einsam am Tisch zu sitzen. So wie es schien, war Christopher auf unabsehbare Zeit anderweitig beschäftigt, und die chinesischen Gepflogenheiten waren offensichtlich sehr viel strenger als die in England. Und selbst Zuhause war es ein Unding, dass die Herrschaft mit den Dienstboten aß. Sie wollte sich nicht ausmalen, was sie auslösen würde, versuchte sie es in China.
Sie aß ein paar Löffel und schob die Schüssel von sich, weil sich kein Appetit einstellte. Sie läutete nach einem Diener und ließ das Essen abtragen.
Es wurde Zeit, sich mit den anderen Hausbewohnerinnen bekannt zu machen.
„Es gehört sich nicht, taitai !“, jammerte Bao.
Sie standen im Gang, der in den Flügel führte, in dem die Konkubinen untergebracht waren.
„Bao, ich habe keine Lust mehr auf das, was sich gehört. Diese Frauen wohnen ebenfalls hier, und ich sehe keinen Grund, warum wir nicht gemeinsam Zeit verbringen sollten. In England sind Hausgäste nichts Ungewöhnliches, und diese essen und leben mit der Familie.“
„Aber in China …“
„Still jetzt, Bao! Ich begehe doch kein Verbrechen! Du darfst gerne bei der Übersetzung meiner Worte passende Formulierungen wählen, damit die Konkubinen mich nicht missverstehen.“
Anna schritt entschlossen den Gang hinab und folgte den Stimmen.
Sie gelangte in einen kleinen separaten Innenhof, der völlig versteckt vor den Blicken des Haupthofes und der Gebäude lag. Kleine Löwenstatuen standen verstreut herum.
Auf einem Hocker saß eine Chinesin mit hochgestecktem Haar und musizierte auf einer flachen Laute. Zwei andere Frauen spielten ein Brettspiel, während eine vierte träge auf einem Sofa lag und die beiden beobachtete.
Die Chinesin auf der Liege bemerkte Anna als Erste. Sie sagte etwas zu den drei Konkubinen, und sofort erstarrten alle und sahen zu Anna. Die Frau auf der Liege erhob sich, und Anna erkannte Lian.
Sie lächelte, und Anna bemerkte den Schalk in ihren Augen. Die junge Chinesin war ihr auf Anhieb sympathisch.
Die übrigen hielten sich diskret im Hintergrund, doch Lian kam sofort auf Anna zu.
Sie warf sich zum Kotau nieder, und die anderen drei taten es ihr gleich.
„Bitte steht auf, das ist nicht nötig!“
Bao übersetzte für Anna, und die Konkubinen erhoben sich zögernd.
Anna deutete auf sich und sagte langsam: „Mein Name ist Anna Drysdale.“
Bao wandte sich an Anna. „ Laoyes Name in China sein Zhuge Hu-Wei , so Euer Name sein Zhuge Ai-Dan !“
Anna nickte. „Sag ihnen das bitte.“
Aufmerksam hörten die Konkubinen zu, und Lian wandte sich an Bao, um sie mit einem Wortschwall zu überschütten.
„Die er yitai Lian sagt, sie hat gesehen in Augen Ai-Dans , dass sie Schwestern des Herzens seien. Sie hofft, ihr Wunsch möge nicht vermessen sein, dass sie in Ai-Dan eine Schwester sieht.“
Anna fühlte sich geschmeichelt. Sie nickte und wandte sich Bao zu. „Sag ihr bitte, dass ich sehr gerne ihre Freundin wäre.“
Bao wirkte nicht glücklich, doch sie redete eine ganze Weile auf Lian ein, die daraufhin auf Anna zu trat, sie umarmte
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